Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
los.
    Vierundzwanzig Stationen liegen vor uns. Wir fahren durch Kadıköys Hauptstraße, die Söğütlüçeşme. Die Betonbauten, die hier stehen, sehen müde und verlebt aus, die Fensterscheiben ungeputzt, die Waren lieblos in den Schaufenstern verteilt. Aber die Straße ist belebt. Die meisten Passanten streben in die Gassen, wo sich einer der berühmtesten Lebensmittelmärkte Istanbuls befindet. Dort gibt es Hunderte Sorten Oliven, getrocknete Früchte, frisches Obst und Gemüse und Auslagen mit allem, was vom Lamm essbar ist. Große pockige Fische schauen einen an.
    Der Legende nach ließen sich die ersten Siedler auf dem Gebiet des heutigen Kadıköy nieder. Später kam Byzas, der Gründer von Byzanz, in die Gegend. Weil die Siedler nach seiner Meinung die geografischen Vorzüge der anderen Uferseite nicht erkannt hätten, hielt er sie für blind, und da das Orakel von Delphi ihm gesagt hatte, dass er sich gegenüber den Blinden ansiedeln solle, gründete er auf der heutigen europäischen Seite seine Kolonie.
    Der Reiseführer erwähnt Kadıköy nur kurz. Es gibt hier kaum ausgewiesene Sehenswürdigkeiten. Eine der wenigen steht inmitten des werktäglichen Nachmittagsverkehrs etwas erhöht auf einer Fußgängerinsel: eine lebensgroße Bullenstatue. Vom vielen Berühren ist sie an einigen Stellen ganz blank. 1864 von Isidore Bonheur in Paris geschaffen, fiel sie in den Wirren des Ersten Weltkriegs den Deutschen in die Hände und wurde 1917 von Kaiser Wilhelm II. dem osmanischen Kriegsminister Enver Pascha geschenkt als Zeichen der unverbrüchlichen Freundschaft, die wohl eher den geostrategischen Interessen geschuldet war. Nach verschiedenen Stationen steht die Statue seit 1969 in Kadıköy. Der Bus quält sich an ihr vorbei durch die Altstadt. Ich bemerke eine bunt bemalte Straßenbahn, die die Buslinie kreuzt. Ihre Gestalt kommt mir bekannt vor, auch das Fahrgeräusch. Ist das nicht ein alter Gothaer Triebwagen? 20 steht auf dem Nummernschild. Ich habe noch nie von ihr gehört. Sie verschwindet laut bimmelnd in einer der Gassen. Wir fahren in entgegengesetzter Richtung aus der Altstadt heraus bis zu einem großen Parkplatz, wo bis vor Kurzem ein Wochenmarkt war, der aber wegen Überlastung in einen Außenbezirk verlegt wurde, weil niemand, auch kein Bus, hier an Markttagen mehr durchkam. Der Blick kann jetzt in die Ferne schweifen. Rechter Hand ist ein riesiges Stadion zu sehen. Der 1907 gegründete Fußballclub Fenerbahçe gehört zum asiatischen Teil Istanbuls, Galatasaray, der Konkurrent, zum europäischen. Die Rivalität sitzt tief. Im Mai stürmten aufgebrachte Fenerbahçe-Fans das Spielfeld und griffen Sicherheitskräfte mit Leuchtspurgeschossen und herausgerissenen Stadionsitzen an, weil ihnen ein Unentschieden nicht gefallen hatte. Dabei hat der Verein schon genug Ärger. Der Präsident wurde vergangenes Jahr wegen Verdachts auf Spielmanipulation in Untersuchungshaft genommen und die Mannschaft aus dem Wettbewerb der Champions League ausgeschlossen. Robert Enke stand hier im Tor, aber nur für ein Spiel. Nachdem ihn Fans der eigenen Mannschaft mit Gegenständen beworfen hatten, löste er seinen Vertrag sofort wieder auf. Jogi Löw hat die Mannschaft trainiert, aber auch er blieb nur eine Saison. Nur Christoph Daum brachte es auf insgesamt vier Jahre als Trainer. Vom Bus aus wirkt das Stadion wie eine verlassene Festung. Danach fängt die neun Kilometer lange Bagdad-Straße an, die Hauptschlagader von Kadıköy. Da die aber zum größten Teil eine Einbahnstraße ist, muss der Bus ausweichen in Richtung Meer. Das macht die 4 zu einer Ringlinie, die gegen den Uhrzeiger und nur in eine Richtung fährt. Wir fahren durch Moda, einem modernen Wohnviertel mit abgezirkelten Straßen und kleinen grünen Inseln. Die Grundstückspreise sind hier inzwischen gestiegen, das Viertel ist begehrt, aber die Istanbuler leben im Allgemeinen wegen der schwierigen Infrastruktur eher in der Nähe ihrer Arbeitsplätze. Auch spielt sich das Nachtleben auf der europäischen Seite ab. Die letzte Fähre geht 23 Uhr.
    Hätte ich keinen Istanbuler Begleiter, wüsste ich nicht, dass eine der Haltestellen, Şaşkınbakkal, übersetzt »Verwirrter Tante-Emma-Laden« heißt. Der Legende nach hat dort ein gewisser Ahmet Koşar Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einen kleinen Laden, auf Türkisch Bakkal, eröffnet, als ringsherum nur Wiesen und in der ferneren Umgebung nichts als Sommervillen und das Erenköy-Mädchengymnasium waren. Es

Weitere Kostenlose Bücher