Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
Musik machen und einen Fetzen Amerika über die Straße bis zum Gucci-Laden tragen. Oder war es Yves Saint Laurent? Gleich daneben gibt es ein Geschäft, in dem Regale voller russischem Wodka stehen. Der Bus ist so langsam, dass man den Frauen beim Shoppen zusehen kann. Für den Weg bis zum Hafen braucht er doppelt so lange. Wieder begegnet mir die alte Straßenbahn, die im Stau steht und das Hupkonzert mit ihrer heiseren Klingel begleitet, weil immer ein Auto auf den Gleisen stehen bleibt und der Fahrer schnell irgendwas erledigt. Lange gibt es sie noch nicht. Erst 2003 wurde sie eingerichtet. Als historische Tramlinie T3, so ihr offizieller Name, ein Zweirichtungstriebwagen. Die 20 ist nur Nostalgie. Und auch innen überwiegt das Gestrige, selbst wenn die Fahrgäste ganz bei sich und gegenwärtig sind. Bora, mein verlässlicher Stadtführer, kriecht in das Fahrerhäuschen und kommt mit der Information zurück, dass es ein Schild des Herstellers gebe: VEB Hans Beimler. Es ist eine Gothaer Straßenbahn, wie die meiner Kindheit, die als 4 über unsere Insel fuhr. Zu Hause recherchiere ich, dass sie aus Jena nach Istanbul gekommen ist. Zehn Stationen und nicht mehr als einundzwanzig Minuten gebe ich mich der Vergangenheit hin, zwischen Kadıköy und Moda, einem Rundweg durch das alte Hafenviertel auf rumpeligen Schienen.
    Meine Fahrt endet im Café Kafka, dessen Schild schon vom Meer aus auf die Dachterrasse eines Hauses mit Buchhandlung hinweist. Und wirklich ist das Café hoch über der Stadt dem Dichter gewidmet. Sein Porträt ist groß auf dem Fahrstuhl und auch von der Fassade leuchtet es in Richtung Bosporusschiff. Man kann Limonade trinken, Kaffee oder Tee und dabei von hier oben den Bau der U-Bahn verfolgen, die bald vom Hafen in die auswärtigeren Quartiere fahren und die Straßen und Buslinien erheblich entlasten wird. Unten ist eine Gothaer Straßenbahn, ganz klein auf ihrer ewigen Rundreise, ihr türkisches Gnadenbrot fressend. Vom Hafen her schwirren Fetzen von Indianergesängen bis nach oben. Die Sänger, die eben noch in vollem Federschmuck auf der Bagdadstraße sangen, sind jetzt gegen Abend an den Hafen gezogen. Wahrscheinlich aus geschäftlichen Gründen.
    Ein grüngrauer Smogschleier liegt über dem Marmarameer. Auf der Fähre zurück nach Eminönü läuft ein Kellner mit einem Tablett voller Tee übers Deck. Ein Mann dreht nervös eine Gebetskette, einer liest eine Zeitung namens Radikal, eine Frau versteckt sich hinter ihrem Kopftuch. Ein schöner junger Mann holt eine Geige aus einem alten Kasten, ein anderer stimmt seine Gitarre. Dann fangen sie an zu spielen. Ein Dritter singt, die jungen Leute ringsherum stimmen ein. Orhan Pamuk hat das seltsam melancholische Gefühl, das einen in Istanbul befällt, als »hüzün« beschrieben. »›Hüzün‹ ist genauso wie ›tristesse ‹ ein treffender Begriff, um nicht vom als Krankheit empfundenen Leiden eines einzelnen Menschen zu sprechen, sondern von millionenfach erlebter Kultur, Atmosphäre, Empfindung.« Die Menschen werden ständig schmerzlich daran erinnert, »dass sie Überbleibsel eines großen Reichs sind«.
    Die beiden konkurrierenden Moscheen mit ihren Minaretten, die untergehende Sonne, das Meer, der Gesang, der ein Ziehen in der Herzgegend verursacht, ein selten schöner und ganz ruhiger Moment, bis der Kapitän kommt und der Melancholie ein Ende macht. »Hüsün« hin oder her: Musizieren ist hier verboten. Das verstehe ich, ohne ein Wort Türkisch zu können.
    »Angenehm, die Stille des Orients«, sagt Jörg Fauser in Rohstoff . »Ein schöner Fleck Erde. Gut, dass ich nicht bleiben konnte.«

Mit Frau Angelika
hinterm Ural
    Jekaterinburg, Russische Föderation
    F ür viele im Westen endet Europa immer noch an der Elbe, andere setzen es mit den Grenzen der Staaten des Schengener Abkommens gleich, etwas Weltoffenere behaupten, die Wolga sei die Grenze. Geografisch endet Europa hinterm Ural. Wer nach Jekaterinburg will, überfliegt dieses Gebirge. Nach der Landung kann man kaum glauben, dass das hier Asien sein soll. Jekaterinburg scheint einem auf den ersten Blick so europäisch wie Brno, Poznań oder Riga. Das ändert sich auch auf den zweiten Blick nicht, es kommt hingegen noch das Erstaunen hinzu, wie vielfältig hier die Architektur ist: Es gibt russische Holzhäuser und orthodoxe Kirchen, Barock und Klassizismus, riesige Kathedralen und Stalin-Bauten, gläserne Hochhäuser und Shopping Malls der neunziger Jahre und, was besonders ins

Weitere Kostenlose Bücher