Mit der Linie 4 um die Welt
Auge fällt, jede Menge Gebäude aus der Epoche des Konstruktivismus der zwanziger und dreißiger Jahre. Jekaterinburg ist mit 1,3 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Russlands, nach Moskau, Sankt Petersburg und Nowosibirsk. Von 1924 bis 1991 hieß sie Swerdlowsk. Noch heute ist das Denkmal für den bolschewistischen Revolutionär nicht zu übersehen, es steht zentral auf dem Lenin-Prospekt, gegenüber der Maxim-Gorki-Universität und unweit der Haltestelle Kinostudija, wo die 4 hält. Jakow Swerdlow war 1918 für die Ermordung der Zarenfamilie verantwortlich, die ein paar Hundert Meter weiter nördlich im Ipatjew-Haus gefangen gehalten und in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 von einem Erschießungskommando ermordet wurde, bevor die weißgardistischen Truppen Jekaterinburg erreichten. Swerdlow allerdings überlebte die Romanows nicht lange. Das Denkmal zeigt ihn, wie er sich, auf einem Felsblock stehend, gegen den Wind stemmt, der aus dem Osten kommt. Was ihn umbrachte, kam von hinten, aus dem Westen. Es war die Spanische Grippe, an der er im Frühjahr 1919 starb. Kein anständiger Tod für einen Revolutionär.
© Annett Gröschner
Auf dem Grundstück des Ipatjew-Hauses steht seit 2003 die Kathedrale auf dem Blute; das Ipatjew-Haus hatte Boris Jelzin, der spätere Präsident Russlands und neun Jahre lang, bis 1985, Erster Sekretär des Gebietskomitees Swerdlowsk, 1977 abreißen lassen, damit es keine Pilgerstätte würde, eine Entscheidung, die er während der Perestroika bereute. 1998 nahm er pflichtschuldig und professionell zerknirscht an der Trauerfeier teil, bei der die sterblichen Überreste der Zarenfamilie, die aus Jekaterinburg nach Petersburg überführt worden waren, in der Hauskirche der Romanows bestattet wurden. Die Kathedrale auf dem Blute sieht aus, als würde sie schon zweihundert Jahre alt sein. Es ist ein Pilgerort, und man gedenkt dort weniger Gott denn der Zarenfamilie. Ein Denkmal vor der Kirche zeigt sie um ein orthodoxes Kreuz geschart, der Zar trägt das jüngste Kind auf dem Arm. Sie schauen in die Ferne in Erwartung ihrer unsichtbaren Mörder. Innen herrscht reger Betrieb, viele alte Frauen und Touristen, aber auch ein junger Mann ist dort, der jede Ikone küsst und sich dann vor ihr bekreuzigt.
Die Stadtführerin, die unsere kleine Gruppe hierhergeführt hat, spricht Deutsch mit perfektem schwäbischem Akzent, weil sie viel mit schwäbischen Firmen zu tun hat. Wir sollen Frau Angelika zu ihr sagen. Mich interessiert, woher sie den für sowjetische Zeiten so ungewöhnlichen Vornamen hat, und sie erzählt, dass ihre Mutter nach ihrer Geburt, noch im Krankenhaus, den Namen Swetlana für sie ausgesucht und den Vater zum Standesamt geschickt habe. Der kam mit einer Geburtsurkunde zurück, auf der der Name Angelique stand. Er konnte sich nicht erklären, wie das passiert war. Angelique hieß die Hauptfigur einer französischen Serie, die in den sechziger Jahren im sowjetischen Fernsehen lief. Vor allem die Großmutter war entsetzt, aber es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Sie habe ihren Vornamen später in Angelika geändert, weil sie zur deutschen Sprache doch eine wesentlich intensivere Beziehung hat als zur französischen.
Ich frage Frau Angelika, ob sie Lust hat, mich auf einer Fahrt mit der Linie 4 zu begleiten. Sie ist nicht erstaunt über die Frage, sie sagt sofort zu. Ich hätte die Wahl zwischen einer Straßenbahn und einem Trolleybus Nr. 4, im selben Atemzug rät sie mir zur Reise mit der »Tramwai«.
Am nächsten Morgen holt sie mich im Hotel ab. Bevor wir losfahren, breitet sie ihre Kindheit vor mir aus, die mich an meine erinnert: eine alte Kinderzeitschrift Bummi , eine ABC-Zeitung, damals erschienen im Verlag Junge Welt, eine Gummibärentüte ohne Inhalt, hergestellt in der Süßwarenfabrik VEB Portola Magdeburg. Sie ist in Sibirien aufgewachsen, ihre Mutter war Parteisekretärin, und weil sie Beziehungen hatte, fanden die DDR -Produkte ihren Weg bis hinter den Ural zu einem kleinen Mädchen, das noch heute, als erwachsene Frau, deutsche Pionierliedertexte fehlerfrei auswendig kann. Ich habe sie längst vergessen.
Wir steigen an der Ecke Lenin-Prospekt, ein paar Meter östlich des Swerdlow-Denkmals, in die Straßenbahn und fahren nach Nordosten. Es ist eine tschechische Tatra T3, die auch in Magdeburg fuhr. Die Innenausstattung ist schlicht, ganz auf ihre Funktion beschränkt, so viele Leute wie möglich von A nach B zu bringen. Die Farbe des
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