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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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gesäumt. Ihre Schuhe sind nicht unbedingt zum Fahren einer Straßenbahn geeignet, die man nur mit dem vollen Einsatz des Körpergewichts von der Stelle bekommt. Auf dem Kopf sitzt ein blaues Schiffchen, das sie in brenzligen Situationen, derer es im dichten Feierabendverkehr viele gibt, in den Nacken und wieder zurückschiebt. Aber sie tut ihre Arbeit mit so viel Anmut, Umsicht und Freundlichkeit, dass man mit ihr in der alten Schaukel bis nach Moskau fahren möchte. Dabei kommt man mit der Linie nicht einmal bis zum Hafen, da muss man an der Tatarstaner Straße umsteigen in die 7, die abends aber nur ganz selten kommt. Am Univermag, dem örtlichen Kaufhaus, nimmt die Bahn eine enge Rechtskurve, die Shigulis, Ladas und Wolgas zur Seite drängend. Drei lange Stahlrohre rollen unter den Sitzen mit lautem Geräusch hin und her. Welche Funktion sie haben, ist unklar, im Gegensatz zu den Eimern mit Sand, die im Winter dazu dienen, eingefrorene Gleise wieder befahrbar zu machen.
    Hinter dem Puppentheater hat die Bahn endlich das Gleis für sich allein und rast, als wolle sie die Gesetze der Schwerkraft endgültig außer Kraft setzen. Noch zwei Kurven, und sie ist am Depot Nr. 2, ihrer Endhaltestelle, angelangt, denn die Kasaner Linie 4 ist nicht länger als drei Kilometer. Kann sein, dass es die kürzeste Straßenbahnlinie der Welt ist.
    »Armes Mädchen«, sagt die dicke Schaffnerin, die erst seit dem Kaufhaus in der Bahn ist, »du bist falsch, der Bahnhof ist am anderen Ende.«

13.27 Uhr – an der Trolleybus-
haltestelle Horeastraße
    Klausenburg, Rumänien
    I n der winzigen Verkaufsbude der Klausenburger Verkehrsbetriebe sitzt eine Billettverkäuferin. Sie wird aus dem Halbschlaf aufgestört, als jemand einen Fahrschein verlangt. 20 000 Lei werden durch das Loch in der Scheibe gereicht. Die Frau nimmt ein schmales Stück Papier mit blau-weiß-rotem Symbol aus einem Kasten unter der Tischplatte und schiebt es zusammen mit zwei 2000-Lei-Scheinen in Richtung Fenster. Die Hand zieht sich augenblicklich mit Fahrschein und Wechselgeld zurück. Sie gehört einem Mann mittleren Alters, der beides in seine rechte Jackettasche stopft und sich zum Warten neben fünf andere unter einen Baum stellt, denn ein Haltestellenhäuschen, das vor der Sonne schützen könnte, gibt es nicht. Eine uralte Frau mit einer geblümten Kittelschürze und roten Kniestrümpfen schleicht an den Wartenden vorbei. In der rechten Hand hält sie eine durchsichtige Plastetüte mit geschnittenem Brot, die sie mit der anderen Hand unablässig dreht und dreht bis kurz vor dem Platzen und dann wieder abspult. Das wiederholt sie mehrere Male. Eine Roma sitzt halb auf der Motorhaube eines alten Dacias, der am Straßenrand abgestellt ist. Ihr rechter Fuß auf dem Bordstein wippt zu einem Rhythmus, Geigenmusik kommt aus dem Inneren des Autos. Am Steuer sitzt ein Kind, bewegt das Lenkrad hin und her und ahmt die Geräusche eines Motors nach. Der Mann unter dem Baum fängt jetzt auch an, leicht mit dem Fuß zu wippen.

© Annett Gröschner

Ein Trolleybus der Linie 4 hält, drei der Wartenden, darunter auch der wippende Mann, gehen im Haltestellenbereich auf die Straße und bleiben neben der Tür stehen, bis die zwölf Aussteigenden auf den Gehweg gesprungen sind, denn die zweite Stufe unter der vorderen Trolleybustür fehlt. Fünf der Aussteigenden versuchen, hinter dem Bus die breite Straße zu überqueren. Wie Dreispringer hüpfen sie zwischen den fahrenden Autos auf den Gehweg der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort steht eine Synagoge, aus deren Tor ein paar Kinder auf die Straße treten. Einige steigen in bereitstehende Limousinen, andere bleiben an der Haltestelle stehen und lassen ihre Turnbeutel um die Beine spielen oder versuchen, einen kleinen Ball in der Luft zu halten, was nur selten gelingt. Nichts an ihnen ist still. Nicht der Mund, nicht die Beine, nicht einmal die Ohren.
    Eine Straßenbahn schiebt sich zwischen die beiden Straßenseiten, bremst ab und öffnet die Türen: Die Wagen sind dick und gelb. Neben den Türen steht auf Deutsch: »Bei Abfahrtssignal bitte nicht einsteigen.« In der Mitte über den Rädern befindet sich das Signet einer Frau auf einer Mauer und die Aufschrift »Magdeburger Verkehrsbetriebe GmbH«. »In dieser Straßenbahn habe ich vor zweiundzwanzig Jahren die Mathehausaufgaben von Cordula Kieren abgeschrieben. Es war die 10, die zum Magdeburger Zoo fuhr«, sagt eine dunkel gekleidete Frau zu einem kleineren Mann neben

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