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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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ihr, der sein Leinenhütchen keck über das rechte Ohr gezogen hat. »Ce?«, fragt der Mann und wendet sich seinem Nachbarn zu, als hätte er Angst, die Frau könnte ihn weiter belästigen. Der andere trägt einen Hut aus Stroh und ist nicht an einem Gespräch interessiert. Die Straßenbahn klingelt und schließt die Türen mit einem lauten Geräusch. Beim Abfahren knackt sie, als fiele es ihr wegen ihres Gewichtes schwer, sich fortzubewegen.
    Ein Mädchen aus der Gruppe der Schüler knüpft einem etwas älteren Jungen ein Freundschaftsbändchen um das linke Handgelenk. Er streicht ihr mit der rechten Hand über die Wange. Der Trolleybus Nr. 4 fährt in die Haltestelle ein. Die Deutsche, die beiden Männer mit den Hüten und der Junge mit dem Freundschaftsband steigen in den Bus. Das Mädchen wirft dem Jungen eine Kusshand zu.

Sightseeing
for Loser
    London, Großbritannien
    D as heutige London ist ohne die roten Doppeldeckerbusse nicht denkbar. Dicht an dicht ziehen sie durch die Straßen, und auf ihren Oberdecks lässt sich einen Moment lang vergessen, dass man in einer Stadt ist, die einem, abgesehen von einigen kostenlosen Museen, das Geld in Wahnsinnsgeschwindigkeit aus dem Portemonnaie zieht. Vom Bus aus lässt sich die Stadt für das geringe Entgelt eines Fahrscheins konsumieren. Ich bin mit Mererid und Steffen unterwegs, die beide an der Londoner Universität arbeiten. Mererid erzählt, dass Margarete Thatcher gesagt haben soll, wer nach dem achtzehnten und vor dem fünfundsechzigsten Lebensjahr öffentliche Verkehrsmittel benutze, sei ein Versager. Willkommen im Club! Dazu passt natürlich, dass der Bus der Linie 4 vom Bahnhof Waterloo abfährt. Der Kopfbahnhof wurde 1848 nach der berühmten Schlacht südlich von Brüssel benannt. Aber natürlich ist Waterloo nur Metapher für Napoleons Niederlage, dessen Truppen von den Briten und den Preußen besiegt wurden. Eine Niederlage hat inzwischen auch der Bahnhof Waterloo selbst zu beklagen. Hier fuhren dreizehn Jahre lang die Eurostar-Züge nach Paris ab. Mit der Fertigstellung der High Speed One, einer Hochgeschwindigkeitsstrecke, die am Bahnhof St. Pancras endet, steht Waterloo International leer. Da fällt einem sofort der Song Waterloo von Abba ein: »The history book on the shelf / Is always repeating itself« (Das Geschichtsbuch im Regal wiederholt sich immer wieder). Der Bahnhofsname als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Gebhard Leberecht von Blücher hätte ihn eher Belle Alliance genannt, wie einst Plätze und Bahnhöfe in Berlin. Darauf ein Filet Wellington. (Das Wellington-Hotel ist auch nicht weit.) Der 4er-Bus nach Archway nimmt Anlauf bis zur Waterloobrücke. »Sightseeing«, sagt Steffen, »hier hast du alles Wesentliche beisammen, da kannst du dann gleich wieder nach Hause fahren, London abgehakt.« Aber ich kann nur einen Blick auf das London Eye, das derzeit höchste Riesenrad Europas, und Westminster Abbey erhaschen. Dann versperrt mir eine Gruppe japanischer Touristen die Sicht, die sich auf dem Oberdeck, leicht geduckt stehend, gegenseitig anrempeln, um die beste Position beim Fotografieren zu haben. Als einer kurz zur Seite tritt, um auf dem Display seiner Kamera das Ergebnis zu kontrollieren, erhasche ich ein defektes Abflussrohr auf der Brücke, dann sind wir schon auf der anderen Themseseite in der City of Westminster, Regierungssitz und Touristenschleuse. Der Bus fährt durch die Straßen Strand und Aldwych, geballter Reichtum rechts und links, vor allem große teure Hotels und Repräsentanzen. Vor dem Waldorf Hilton stehen die Empfangsangestellten mit weißen Handschuhen unter dem Hotelvordach und knicken devot ein, wenn ein großes Auto vorfährt. Der Reichtum nimmt bei der Linie 4 von Süden nach Norden ab. »Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung des Landes verdienen 273-mal mehr als die ärmsten zehn Prozent«, sagt Mererid. Und London ist die Hauptstadt der sozialen Ungleichheit, nicht nur Großbritanniens, sondern Europas.

© Annett Gröschner

Wer kein Ticket hat und keine gültige Oyster Card, ein elektronisches Ticket, vorweisen kann, muss damit rechnen, erkennungsdienstlich behandelt zu werden, steht auf einem Schild am Eingang des Busses. Er wird von einer Frau mittleren Alters gesteuert, deren Fluchen bis auf das Oberdeck zu hören ist. Wo viele Touristen sind, ist auch viel Behinderung auf den Straßen. Nicht alle sitzen entspannt auf den Treppen vor der St.-Paul’s-Cathedral, viele wissen plötzlich mitten auf

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