Mit der Linie 4 um die Welt
Züge nach Kiew, Vilnius, St. Petersburg, nach Kasachstan und über Brest, wo sie umgespurt werden in die Europäische Union.
»Wenn Sie mit dem Zug aus Europa nach Minsk fahren, empfängt Sie die Sonnenstadt mit ihrem prächtigen Torplatz … mit zwei pyramidalen Tortürmen, auf deren mittlerer Ebene an beiden Ecken die Statuen der acht Stadtwächter stehen«, heißt es bei Artur Klinau. Von einem der Bahnhofsbistros hat man einen guten Blick darauf. An den Regenrinnen wachsen Eiszapfen, übertrieben groß wie die Gebäude und bereit, sich beim ersten Tauwetter auf die winzig kleinen Passanten unter ihnen auf dem Gehweg zu stürzen und sie zu pfählen.
Am Sonntag ist der Minsker Bahnhof voll. Zwischen den Reisenden und Herumlungernden bewegen sich zahlreiche Milizionäre. Sie gehen auf die Wartenden zu, die ihnen obdachlos erscheinen, Leute, die sich eine Fahrkarte nicht leisten können und hier sind, weil es warm ist und manchmal etwas Essbares auf den Tischen der Caféterien von den Reisenden zurückgelassen wird. Anders als auf anderen Bahnhöfen der Welt, setzen sich die Leute schon gerade hin, wenn der Milizionär noch zehn Schritt entfernt ist, und fingern in den Hosentaschen nach dem Ausweis.
Weil heute Valentinstag ist, stehen vorwiegend Männer an den Blumenständen der Unterführungen nach Rosen an. Eine kostet umgerechnet 1,50 Euro, mitteleuropäische Preise, die Auswahl ist nicht groß. Es gibt nur langstielige Rosen in Rot und langstielige Rosen in Weiß. Viele der Käufer streben den Bahnsteigen und Wartesälen zu, manche auch den Haltestellen, wo sie auf ihre Liebste warten, alle mit einer Rose in der Hand.
In der Ecke des Wartesaals im alten Teil des Bahnhofs sitzt ein junges Paar auf der Heizung, einander zugewandt, im Hintergrund die Gleise, wartende Diesellokomotiven. Sie haben noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. So könnte ein sowjetischer Film anfangen. Natürlich zieht er in den Krieg. Er wird das Jahr nicht überleben, und sie wird ihre Trauer in Wut verwandeln und Scharfschützin werden. Dieser Abschiedskuss hier wird der erste überhaupt sein. Eine Stimme, die noch nicht aus der Konserve kommt, kündigt die Bereitstellung des Zugs nach Brest an. Der Mann nimmt seinen Rucksack. Die Frau bleibt mit der Rose zurück. Das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Das große glückliche
Straßenbahnspiel
Naumburg, Sachsen-Anhalt
S onnabendnachmittag auf dem Bahnhofsvorplatz. Es scheint, als gäbe es keine Menschen hier, als stünden die letzten beiden auf dem Bahnsteig 2, um mit dem nächsten ICE , der hält, das Weite zu suchen. Zuletzt war ich vor fünfzehn Jahren in Naumburg, als ich im Zug von Berlin nach Leipzig nicht rechtzeitig aufwachte und unfreiwillig bis nach Naumburg weiterfahren musste. Damals war der Bahnhofsvorplatz, auf dem ich mir die Zeit bis zum Zug zurück nach Leipzig vertrieb, noch doppelt so groß. Jetzt steht gegenüber dem behutsam renovierten Bahnhofsgebäude die Arbeitsagentur, ein hässlicher Zweckbau, in dessen Erdgeschosszone sich ein Café mit Bowling- und Dart-Angeboten befindet. Vielleicht für Leute, die sich nach drei Stunden Wartezeit abreagieren müssen. Die Haltestelle der Linie 4 ist gleich nebenan.
Wo kommen die beiden Mädchen her, die plötzlich mit mir an der Haltestelle stehen? Sie sehen aus, als wären sie einem Twilight -Film entsprungen. Und wenn ich es recht betrachte, ist auch die alte Straßenbahn, die jetzt am Prellbock zum Halten kommt, nicht von dieser Welt. Die Mütze des Fahrers und seine Uniform waren zu Zeiten modern, als man zumindest bei der Eisenbahn noch Beamter auf Lebenszeit war. Und die Fahrscheine sehen auch aus, als sei man in einem Fahrgeschäft unterwegs und nicht in einer regulären Straßenbahn der Linie 4. Außerdem, und das macht mich stutzig, ist die 4 die einzige Straßenbahnlinie überhaupt in Naumburg. Warum ausgerechnet die 4? Werden sich die beiden Mädchen nach dem Klingeln auf mich stürzen, mit weit aufgerissenen Augen und spitzen Zähnen? Das Ende einer Straßenbahnfahrt – highway to hell. Wenn ich Glück habe, wache ich auf, und es war nur einer meiner Straßenbahnträume.
© Annett Gröschner
Aber die Mädchen sind ganz friedlich. Sie setzen sich stumm auf eine der vorderen Bänke und schauen aus dem Fenster. Das Klingeln ist laut, und die Tür schnarrt beim Schließen, wie es sich für einen Gotha-Triebwagen gehört. Die Geschichte dieser Straßenbahn ist auch keine Vampirstory, von denen es ja etliche im Osten gab
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