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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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hinzugelangen, laufen Anne und ich quer über den riesigen Platz. Man kann ihn nicht einfach betreten. Es gibt Zugangsschleusen, an denen Körper und Taschen auf Waffen und Sprengstoff kontrolliert werden. Kaum jemand geht hier ohne Begleitung, die meisten kommen in Gruppen, Delegationen aus fremden Ländern oder Dorfbewohner, die eng beieinanderbleiben, vielleicht, weil die Größe sie ängstigt. Nur die Kinder springen unbefangen herum. Die ganz Kleinen tragen Hosen mit offenen Schlitzen am Hintern. So brauchen sie keine Windeln. Ich sehe aber keines, das sich einfach auf den Platz hockt, um seine Notdurft zu verrichten.
    Mich beeindrucken die unzähligen Überwachungskameras am Platz, die wie Schwalbennester an den Beleuchtungsmasten kleben und in alle Richtungen zeigen. Auch Polizeibusse sind mit Kameras bestückt. Nichts bleibt hier ungesehen. Man ist ganz nackt auf dem Platz, unter einer unbarmherzigen Sonne, vor der man sich nur unter den Schirmen schützen kann. Mir fällt ein Mann in Arbeitskleidung auf, der mit einer Bohrmaschine die Steinplatten behandelt. Ich frage mich, warum er da Löcher reinbohrt, schaue genauer hin und erkenne, dass an der Maschine kein Bohrer befestigt ist, sondern eine Drahtbürste. Verglichen mit diesem Mann, der auf dem mit vierundvierzig Hektar größten Platz der Welt die breitgetretenen Kaugummis entfernen muss, war Sisyphos’ Arbeit eine leichte.
    Um das Mao-Mausoleum schlängeln sich Schirme. Um dort eingelassen zu werden, muss man alles abgeben, nur den Schirm und den Pass darf man behalten, auch ein wenig Geld, um eine von den gelben Chrysanthemen zu kaufen, die vor einem Denkmal Maos im Inneren des Mausoleums abgelegt werden. Das Denkmal scheint den Oberkörper Maos, aber die Beine von Roosevelt zu haben, er hält sie genauso übergeschlagen wie der amerikanische Präsident auf dem Foto von Jewgeni Chaldej auf der Potsdamer Konferenz 1945. Die Roosevelt-Beine passen nicht zum Mao-Kopf. Aber die Leute sind trotzdem überwältigt von Trauer, und ganz sicher nicht aus Wut darüber, dass sie einen Führer besuchen, unter dessen Regentschaft nach neuesten Recherchen bis zu sechsundsiebzig Millionen Menschen umkamen. Am Ausgang gibt es Devotionalien aller Art, die das Herz jedes Maoisten erfreuen müssten. Die Mao-Mützen tragen hier aber nur noch Touristen und Bettler, die Touristen um Geld bitten.
    Am südlichen Ende des Tian’anmen-Platzes schließt am Tor der Mittagssonne der Qianmen-Platz an. Dort steht eine Straßenbahn zur Abfahrt bereit. So eine alte Bimmelbahn, wie sie in Istanbul auf der İstiklalstraße in Betrieb ist. Tatsächlich aber ist sie nur eine Straßenbahnattrappe. Der Stromabnehmer hat keine Funktion, außer den Mitreisenden eine gute alte Zeit vorzugaukeln. Sie glaubt, sie zuckelte durch die Qianmenstraße, die auch nicht echt ist. Um dieses Peking-Disneyland mit lauter Geschäften, die es auch in Europa gibt, aus Beton zu erschaffen, wurden 2007 etliche Hutongs des jahrhundertealten und einst wichtigsten Geschäftszentrums Pekings abgerissen. Ich bin froh, dass der T4 hier nicht durchfährt. Was soll man da schreiben? Über H&M, Zara, Mango und Häagen-Dazs? Und kein einziger Chinese, der hier einkauft?
    Der T4 ist ein Doppeldecker. Das ist ungewöhnlich, auch dass es ein alter Bus ist, zwischen erstem und zweitem Ring werden oft hochmoderne Fahrzeuge mit Klimaanlage eingesetzt. In diesem Doppelstockbus aber gibt es Fenster, die sich aufschieben lassen. Überall kleben deshalb Schilder, dass man sich nicht hinauslehnen solle, was auch wirklich gefährlich ist, denn der Bus fährt dicht an Masten und Bäumen vorbei. Die kleine schmale Schaffnerin ist erfreut über den Besuch von zwei Langnasen in ihrem Bus, noch mehr freut sie sich, dass Anne mit ihr Chinesisch spricht. Danach wissen wir, dass eine Fahrt über die ganze Strecke 3 Yuan kostet, Kurzstrecke nur 1. 3 Yuan sind im Moment umgerechnet noch 40 Cent, aber der Euro fällt und fällt. Die Fahrscheine mit der Zeichnung einer Pagode sind aus dünnem Papier und werden von der Schaffnerin mit einem roten Buntstift, den sie um den Hals trägt und mit dem sie die 4 durchstreicht, entwertet.
    Die Schaffnerin sagt uns, wir sollten uns festhalten, als wären wir kostbares Gut, für das sie verantwortlich sei. Wir steigen nach oben und setzen uns ganz nach vorne auf die Sightseeingposition. Die Frontscheibe ist innen mit einem Zaun geschützt, was vermuten lässt, dass die Fahrt etwas ruppiger zugehen

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