Mit der Linie 4 um die Welt
geleitet, wo sie bei den schriftlichen Arbeiten mit Kameras überwacht werden. Die Prüfungen werden »gaokao« genannt, der Name hat etwas Onomatopoetisches. Das Ergebnis entscheidet darüber, wo und was man studieren darf. Neigungen spielen keine Rolle. Wer Ingenieur werden will, dem wird, wenn er Pech hat, ein Sprachenstudium zugeteilt. Ein schlechter Tag, und man studiert ein ungeliebtes Fach in der chinesischen Provinz. Kinder, die nicht in Peking geboren sind, müssen die Prüfung an ihrem Geburtsort ablegen, auch wenn sie seitdem nicht mehr dort waren. Wahrscheinlich ist die Selbstmordrate an solchen Tagen hoch. Vor den Schulen stehen die Eltern in banger Erwartung, was aus ihrem einzigen Kind werden wird. Die Glückskinder des Tages werden einen Platz an einer der Pekinger Universitäten erhalten, die fast alle an der Strecke des T4 entlang liegen. Hinter der Nationalbibliothek sind sie alle aufgereiht, auf dem Stadtplan zähle ich allein sieben Universitäten zwischen vierter und fünfter Ringstraße. Die größte und renommierteste ist die Peking Universität. Der T4 ist jetzt voller Studenten. Die alte Frau ist immer noch da. Ich frage mich, ob sie schon tot ist, denn sie bewegt sich nicht mehr. Hinter uns telefoniert eine junge Chinesin über fünf Haltestellen hinweg sehr laut, bis sie an der Peking Universität aussteigt.
Zwischen der vierten und fünften Ringstraße werden die Häuser kleiner. Der T4 hält vor dem Alten Sommerpalast mit seinem schönen, von Kanälen durchzogenen Garten. Auch wenn das eigentliche Gebäude, das von französischen und italienischen Architekten nach Vorbild Versailles errichtet worden war, 1856 von französischen und britischen Truppen bei der Plünderung der Nordstadt niedergebrannt wurde, ist das Gelände immer noch prächtig. Einiges, wie das europäische Labyrinth, wurde in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgebaut. Einst soll der Kaiser hier ein Mal im Jahr mit seinen Konkubinen das Mondfest gefeiert haben. Sie bekamen Seidenlaternen, mit denen sie sich den Weg durch das Labyrinth suchen mussten. Ich bin gar nicht bis dorthin gekommen. Als ich mir zwei Tage später den Ort anschauen will – ich habe gerade die Eintrittskarte gekauft – überrascht mich ein Gewitter, das alle Besucher herausspült aus dem Garten Eden und hinein in den Bus, der dann eine Stunde unter dem Unwetter hindurchfährt, bis mich am Platz des himmlischen Friedens ein schöner klarer Himmel überrascht, und es plötzlich Berge gibt, wo tagelang nur Smog war. Überhaupt die Parks. Es gibt zahlreiche, über die ganze Stadt verteilt. Ohne sie wären die Pekinger wahrscheinlich schon erstickt. Am Sonntag ist ganz Peking dorthin auf den Beinen, Privatgärten gibt es kaum, auch keine Wochenendhäuser. Die Alten, die keine Angehörigen haben, die ihnen den Rücken kratzen können, reiben ihn an den Bäumen.
Der Alte Sommerpalast ist der nordwestlichste Punkt, an den Touristen innerhalb der Stadt gelangen. Hinter ihm gibt es eine seltsame Urbanität: einen Golfplatz. Kein elitärer, sondern eher einer, der in Berlin als »Volxgolf« durchgehen würde. Gegenüber ist eine eingezäunte Wohnanlage. Aus der Ferne könnte es auch eine Kaserne sein, aus der niemand ohne Genehmigung herausdarf. Anne sagt, dass die meisten Chinesen ein extremes Sicherheitsbedürfnis hätten, deswegen gebe es viele dieser Gated Communitys, in die nur Befugte eintreten dürfen. Neben der Siedlung befindet sich eine alte Industrieanlage, die aber nur noch ein Schutthaufen ist. Einer fährt auf dem Moped neben uns her. Er trägt eine Taucherbrille gegen den Smog.
Dann lassen wir die fünfte Ringstraße hinter uns. Hier endet der Großraum Pekings. Der Bus ist ungefähr dreißig Kilometer gefahren, hat an neununddreißig Stationen gehalten und dafür mehr als eineinhalb Stunden gebraucht. Zwei Haltestellen vor der Endhaltestelle steht die alte stumme Frau plötzlich auf und steigt aus. Völlig unvermittelt, sie war schon Teil unserer kleinen Reisegruppe durch die Stadt.
Hinter einem Kanal, der von riesigen alten Pappeln gesäumt ist, hört die Stadt auf und gibt dem Ländlichen Raum. Im Hintergrund erhebt sich ein hoher Berg mit einer Pagode. Sollte die Stadt an dieser Stelle noch wachsen, müssten die neuen Hochhäuser in das Gebirge gebaut werden. Der Name der Endhaltestelle, Universität für Nationale Verteidigung, bricht mit der Idylle aus einem überschaubaren Busdepot, einer Schule, kleinen Geschäften, vor denen Leute
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