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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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hat ihr Platz und Straße im Fort Tryon Park eingebracht. Hier befindet sich der Endhaltepunkt des M4. Wir sind, nach zwei Stunden, am Ende unserer Reise, an der nördlichen Spitze der Inseln. In der Mitte des Forts hat das Metropolitan Museum of Art eine Außenstelle eingerichtet. Es hat sich in Europa ein fast perfektes kleines Mittelalter zusammengekauft und in einem Gebäude untergebracht, das von Weitem wie ein romanisches Kloster aussieht, von Nahem betrachtet jedoch nur Neo-Neoromanik ist, Mitte der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick über den Hudson in Richtung George-Washington-Brücke. Düster und träge fließt der Fluss dahin. Es gibt kaum Schiffe. Das andere Ufer ist dicht bewaldet, zwischen den Bäumen blitzt eine schlossähnliche Villa hervor.
    Wie hatte Eva Marcu, die als alleinerziehende Emigrantin oft in New Jersey, also am anderen Ufer, als Lehrerin arbeiten musste, gesagt: Manhattan und New Jersey trennt mehr als ein Fluss, vor allem ist es die Intelligenz. New Jersey war ihr zu provinziell. Ihr Ort war das Manhattan der Intellektuellen, der Ironiker, auch wenn sie bis an ihr Lebensende berlinerte. Als sie 2004 mit fast hundert Jahren starb, wurde ihre Asche auf ihren Wunsch hin von Tochter Miki in den Fluss gestreut. Sie ist nun ein Teil der Stadt und eine Metapher für den riesigen, nie abreißenden Fluss von Emigranten, die nach New York kommen, eine Weile bleiben und das Leben der Stadt mitgestalten und schließlich wieder verschwinden.
    In einem der Wachhäuschen der Befestigungsanlage von Fort Tryon ist heute ein Restaurant untergebracht. Draußen stehen vier leere, weiß gedeckte, von riesigen Farnen umgebene Tische, die nach und nach mit herabtrudelndem Laub bedeckt werden. Eine perfekte Idylle.

In China,
wir sagen so …
    Peking, Volksrepublik China
    V or vier Jahren, kurz vor den Olympischen Spielen in Peking, schickte mir ein Freund, der von meiner Leidenschaft für die Linie 4 wusste, ein Foto: ein Bus Nr. 4 am Platz des himmlischen Friedens, im Hintergrund das Tian’anmen-Tor zur Verbotenen Stadt mit dem Porträt von Mao Zedong. Ich war elektrisiert. Der Platz des himmlischen Friedens ist untrennbar mit meinem Leben verbunden, ein Ort der Zivilcourage und des Schreckens, der mir nach dreiundzwanzig Jahren immer noch in den Knochen sitzt, auch wenn die Ereignisse sich mehr als achttausend Kilometer von mir entfernt ereigneten. Ich war gerade dabei, mein Studium zu beenden, als Studenten wie ich den Platz des himmlischen Friedens besetzten und für Freiheit und Demokratie demonstrierten. Unvergesslich jener 4. Juni 1989, als die Proteste blutig niedergeschlagen wurden. Als das Mitglied des Politbüros, Egon Krenz, die chinesischen Genossen für ihre Entschiedenheit lobte, die Ordnung wiederhergestellt zu haben, fürchtete nicht nur ich, dass auch in der DDR die Armee gegen Protestierende vorgehen könnte. In meinem Kopf blieb das Bild des jungen Mannes, der sich fünf Panzern in den Weg stellt. War auf dem Foto nicht ein ausgebrannter Linienbus zu sehen?
    Ich buchte eine individuelle Pauschalreise, was hieß, dass ich vom Flughafen abgeholt und zurückgebracht und einen geringen Teil der Zeit mit einem Reiseführer verbringen würde, der mir die Sehenswürdigkeiten zeigte. Vorher kaufte ich mir aber noch einen aktuellen Stadtplan von Peking, um sicherzugehen, dass die 4 überhaupt noch am Platz des himmlischen Friedens vorbeifuhr. Die dünne rote Linie war deutlich zu erkennen.

© Annett Gröschner

Mein Reiseführer, er hatte sich neben seinem chinesischen Namen noch den für deutsche Touristen leichter verständlichen Namen Johannes gegeben, fragte, was ich in Peking sehen wolle. Ich sagte, das Übliche, und außerdem wolle ich Bus fahren, das sei mein Hobby. Er riet mir sehr eindringlich davon ab. Es sei viel zu gefährlich: Ich könne kein Chinesisch, man brauche einen Fahrschein, bevor man einsteige, es gebe unübersichtlich viele Tarife. Deshalb solle ich ausschließlich das Taxi nehmen, schon die U-Bahn sei zu gefährlich. Eigentlich, so bekam ich schnell heraus, war ich für ihn nur als Abnehmerin von Pekingente und Pekingoper, Jadeschmuck und Seidenblusen interessant, mit den Vermittlungsprovisionen verdiente er sich ein Zubrot. Doch all das wollte ich nicht, was sein Misstrauen erregte. Gegen kritische Fragen war er geschult. Mit dem nötigen patriotischen Ernst lehnte er jede noch so harmlose Frage nach den

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