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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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ich einen China kennzeichnenden Gegenstand auswählen müsste, dann wäre es die Abgrenzung. Sie sind überall dort zu finden, wo große Massen weitergeschleust werden müssen. Manchmal werden in Spalier stehende Menschen als Zaun benutzt wie im Mao-Mausoleum. Sie fordern einen barsch auf, in Zweierreihen zu gehen, und helfen auch mal nach, wenn man nicht spurt. Meistens aber sind es Gitter oder Geländer, die jeden Einzelnen an der Verbreitung von Chaos hindern und zurück in die disziplinierte Masse verweisen, die den Verkehr nicht aufhält. Auch an den großen Pekinger Bushaltestellen gibt es diese Abgrenzungen aus Metall und zusätzlich noch auf den Boden aufgezeichnete Gänge mit der Liniennummer. Jeder, der, sagen wir, mit der 4 fahren will, muss sich an dem von Zäunen begrenzten Gang seiner Linie in ordentlicher Reihe aufstellen. In der Rushhour werden Dispatcher eingesetzt, die mit Wimpel und Headset an der Haltestelle stehen und versuchen, Ordnung in die Wartenden zu bringen und so Staus der Busse zu vermeiden. Manche dieser Wimpelträger machen das in einem heiseren, fast hysterischen Ton, der durch ein hektisches Winken mit dem Fähnchen unterstrichen wird. Ich verstehe kein Wort, aber den Reaktionen der Wartenden nach zu urteilen, schreien die Wimpelträger so was wie: »Die 4 fährt ein, sie fährt zum Alten Sommerpalast, bitte stellen Sie die Ordnung her.« Meistens gelingt das recht gut, überhaupt habe ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln nie Chaos erlebt, und die Busse und U-Bahnen sind so sauber, dass man vom Fußboden essen könnte, wenn das nicht unhöflich wäre.
    Anders als andere Buslinien ist der T4 nicht besonders stark frequentiert, oben bekommt man in der Regel einen Sitzplatz, und ich frage mich, ob es an der Pechzahl liegt, dass die Schlange am Bussteig immer die kürzeste ist. Die Linie verbindet oberirdisch die U-Bahnlinien, manchmal fährt sie parallel zu ihnen, manchmal bringt sie Orte zusammen, an denen eine Linie noch im Bau oder geplant ist. Viele bleiben nur für zwei oder drei Haltestellen im Bus. Nur die alte Frau hält stoisch auf ihrem Platz aus.
    An den Haltestellen sitzen oft bettelnde Frauen mit Säuglingen unter den Bäumen. Anne erzählt, dass das zumeist Frauen von armen Wanderarbeitern seien, die sich oft nicht mal Essen leisten könnten. Das Betteln ist in Peking verboten, nur Mütter mit Kleinkindern werden nicht bestraft. Manche borgen sich auch Kinder aus, um überhaupt eine Chance auf ein bisschen Kleingeld zu bekommen.
    Zwischen der dritten und vierten Ringstraße bieten sich zwei T4-Fahrer ein Wettrennen, als wollten sie beweisen, dass das ein Schnellbus ist, was sonst ja keinem auffällt, denn der Bus hält an fast jeder Haltestelle. Fahrradfahrer gibt es weniger als erwartet, die Autofahrer haben die Oberhand gewonnen, obwohl es entlang der großen Straßen schöne breite Fahrradwege gibt. Gefährlich aber sind die Kreuzungen, vor allem die Linksabbieger nehmen keine Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer. Es gibt viele große und teure Autos, auch aus einheimischer Produktion. »In China alles XL«, hat Johannes mir im Ton eines Agitators gesagt: »Audi XL, Mercedes XL.« An der Kreuzung unter der vierten Ringstraße gibt es Lotsen mit Neonwesten und auf Fahrrädern, die die Fußgänger und Radfahrer sicher über die Kreuzung zu geleiten versuchen. Licht hat fast niemand am Rad, auch die Motorroller oft nicht. Immer noch aber gibt es Galane, die ihre Angebetete auf dem Gepäckträger (sie im Damensitz) durch die Stadt kutschieren.
    In der Zhongguancun Dajie, durch die der T4 eine längere Strecke fährt, wimmelt es von Elektronikmärkte. Auch Kaufhäuser, in denen gefälschte Markenartikel angeboten werden, sind häufig. Man muss hier handeln, sonst wird man übers Ohr gehauen. Anne kann das so gut, als hätte sie in Zwickau nie was anderes gemacht. Eine Kostprobe davon wird sie mir auf dem Rückweg geben.
    Auf dem Weg des T4 liegen ungefähr so viele Schulen wie Filialen von McDonald’s, die sehr beliebt sind bei den jungen Chinesen. Vielleicht hat das eine mit dem anderen zu tun. Heute ist jedenfalls ein besonderer Tag, der in Peking zum Ausnahmezustand führt: die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten. Sogar der russische Präsident Putin, der an diesem Tag zum Staatsbesuch da ist, muss eine Umleitung in Kauf nehmen, weil für dieses Ereignis die Straßen gesperrt werden. So werden die Jugendlichen sicher und schnell in die Schulen

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