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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Verhältnissen mit dem schönen Satz »In China, wir sagen so …« ab. »In China, wir sagen so: Der Kapitalismus ist weiß, und der Kommunismus ist rot. China ist eine weiße Kugel mit einem kleinen roten Kern. Der Kern ist wichtig.« Gern stellte er auch Quizfragen: »Wie viele Einwohner hat Peking?« – »Siebzehn Millionen«, antwortete ich. Das war bei Kairo richtig und bei Istanbul auch nicht ganz falsch. Die Zahl ist überschaubar, so viele Einwohner hatte die DDR . Aber Johannes hielt triumphierend den Zeigefinger hoch: »Zweiundzwanzig Millionen.« Ich wusste schon, dass er zu Übertreibungen neigte. »Mao nicht klein, Mao einskommadreiundachtzig Meter groß«, hatte er mir mit erhobenem Zeigefinger auf meine Bemerkung zu verstehen gegeben, dass Mao in seinem gläsernen Sarg ziemlich winzig aussehe. Es gibt aber ein Foto, auf dem Mao zu dem 1,82 Meter großen Richard Nixon aufschauen muss. 2011 hatte Peking, so recherchierte ich später, 19,6 Millionen Einwohner. Aber man sollte in dem Punkt nicht kleinlich sein, was sind schon 2,4 Millionen Menschen, inzwischen sind es wahrscheinlich sowieso schon mehr. Und das, obwohl die Behörden mit allen Mitteln versuchen, den Zuzug zu begrenzen, um zu verhindern, dass die Stadt unregierbar wird. Mit solchen Diskussionen vertrieben Johannes und ich uns die Zeit bei den Fahrten zu den Minggräbern und der Großen Mauer.
    Am ersten Abend, ich war Johannes glücklich losgeworden, suchte ich die 4. Ich lief die lange, lange Jiangumennei Dajie entlang, von einer Haltestelle zur nächsten, bis sie zur Dongchang’an Jie wurde, aber wo in meinem Stadtplan die 1, die 4, die 10, die 22 und die 37 standen, gab es in Wirklichkeit nur die 1, 10, 22 und 37, aber keine 4. Ich war ratlos. Ich fuhr ein Stück mit der 1. Aber auch weiter westlich, hinter dem Platz des himmlischen Friedens war von der 4 keine Spur. Die lange Suche machte mich müde, und nach diesem ersten Abend wusste ich, dass Peking mit der Haltung der Flaneurin nicht beizukommen war. Nur eine Haltestelle zu weit gefahren, muss man einen Kilometer zurücklaufen; der Abstand zwischen zwei Haltestellen ist riesig, genauso wie zu der der Gegenrichtung. Die Unterführungen unter den acht- bis zehnspurigen Straßen haben zwar so schöne Namen wie »Tunnel des Frauenverbandes«, zwischen ihnen liegen aber sehr große Abstände. Da kommt schnell ein halber Kilometer zusammen.
    Die Frau an der Hotelrezeption, die ich nach der 4 fragte, wollte wissen, wohin ich denn wolle. Ich sagte: »Einfach nur mit der 4 fahren.« – »Aber wohin?«, fragte sie noch einmal und sah mich an, ohne ihr Misstrauen hinter einem harmlos-freundlichen Gesicht zu verstecken. Ich zeigte ihr den Stadtplan mit der eingezeichneten Linie am Platz des himmlischen Friedens. Sie schüttelte den Kopf. »Die 4 fährt hier nicht mehr. Die 4 ist die 1.«
    Ich hatte also diese lange Reise umsonst unternommen. Sollte ich nun mit der 1 fahren, der Devise folgend, in China sind die Dinge im Fluss? Wo gestern noch Ackerland war, ist heute eine Millionenstadt, wo heute noch ein altes Viertel ist, sind morgen schon Hochhäuser. Wo gestern noch die Buslinien 1 und 4 waren, ist heute nur noch die 1. Und ich könnte es vielleicht damit begründen, dass Chinesen der 4 misstrauen. Es ist ihre 13. Das Wort vier klingt wie das für Tod.
    Ich könnte wie Johannes sagen: »In China, wir sagen so: An Tagen mit 4 sollten wir nicht heiraten und keine Verträge abschließen. Auch die 4. Etage ist nicht gut. Und im Bus Nr. 4 fährt der Tod mit.«
    Aber zum Glück bin ich mit der Praktikantin des Goethe-Instituts, Anne Hergert, verabredet. Die hat Sinologie in Zwickau studiert, nicht gerade der Ort, den man mit China in Verbindung bringt, eher mit einem Auto namens Trabant und leider, was Anne sehr unangenehm ist, seit Kurzem auch mit dem Mördertrio der NSU, in den Medien »Zwickauer Terrorzelle« genannt, das dort untergetaucht war und die guten Nachbarn spielte. (Ja, auch eine Straßenbahn der Linie 4 fährt in Zwickau.) Anne hat einige Zeit in Peking studiert und ist nun für ein Praktikum am Goethe-Institut wieder in der Stadt. Sie hat im Internet eine Schnellbuslinie T4 entdeckt, T für »tebie kuai«, »besonders schnell« – 特别 –, die am anderen Ende des Platzes des himmlischen Friedens abfährt, dort, wo der Tian’anmen-Platz am Qianmen Dongdajie, dem südlichen ersten Ring endet. »Besonders« heißt nur, dass sie nicht an jeder Haltestelle hält.
    Um dort

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