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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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dösen, und einem Weg am Kanal entlang. Am Ende der Straße steht dann auch ein für diese Gegend, die von niedrigen Häusern geprägt ist, ein ziemlich martialisch aussehender Protzbau, die Universität. Uns reicht ein Blick von Weitem, dann nehmen wir den nächsten Doppeldecker, der vom Hof des Depots kommt. Die Hochspannungsleitungen am Rand der Straße weisen uns den Weg zurück in die Stadt, für den wir doppelt so lange brauchen werden wie auf der Herfahrt, weil Rushhour ist und die Linksabbiegerampeln minutenlang nicht auf Grün schalten. Ich werde, wenn ich mich drei Stunden später von Anne verabschiede, vier chinesische Zeichen gelernt haben: Land der Mitte, Mensch, groß und 4.

Im Dunkeln
vortasten
    ReykjavÍk, Island
    I ch stehe auf dem Hagatorg in Reykjavík und warte auf den Bus. Es ist windig und kalt, das Bushäuschen bietet wenig Schutz. Ich frage mich, warum dieser Platz so verschwenderisch groß ist, als befände er sich in Minsk oder Moskau, und nicht auf einer zum größten Teil unbewohnbaren Insel. Es ist Vormittag, kurz vor 10 Uhr im November, und es ist immer noch dunkel. Ich bin seit zwei Tagen in Reykjavík und habe noch nicht eine Minute lang die Sonne gesehen. Jetzt im Winter ruht sie sich hinter den Vulkanen aus, hat mir jemand gesagt, der sich das ganze Jahr über auf der Insel aufhält. Im Sommer dagegen wird man sie nur mit dicken Vorhängen los. Aber es gibt an jedem Kiosk zehn Sorten Lakritz, und das entschädigt mich für alles.
    Um zur Endhaltestelle der Linie 4 zu kommen, muss ich mit dem 11er-Bus fahren. Aber er lässt auf sich warten. Aus Langeweile habe ich schon drei Mal die Beförderungsbedingungen gelesen: Der Fahrschein kostet 280 isländische Kronen. Die Fahrer dürfen keine Kreditkarten annehmen, nur Bargeld. Die Fahrer sind nicht berechtigt, Wechselgeld auszuzahlen. Die Fahrer dürfen keine Ausnahme von dieser Regel machen. Nach gefühlten Ewigkeiten fährt der Bus endlich vor. Ich muss vorne einsteigen und das abgezählte Geld in ein durchsichtiges Kästchen stecken. Dafür bekomme ich einen thermokopierten Fahrschein mit einem großen S, das Symbol des Citybus-Unternehmens Strætó. Das S auf dem Fahrschein steht für Bus. Schienenfahrzeuge gibt es nicht in Island. Durch die häufigen Verwerfungen des Bodens wäre es für Schienen viel zu gefährlich, dauernd wären sie sanierungsbedürftig. Eine Stunde und fünfzehn Minuten lang ist eine Fahrkarte gültig. Das reicht nicht, um mit der 4 ein Mal hin- und zurückzufahren. Außerdem muss man, wenn man umsteigen will, dem Busfahrer das Wort »skiptimiđi« zuwerfen. Das lese ich aber erst später in einem Stadtführer.

© Annett Gröschner

Der Bus ist hell und modern. Die Klingel hört sich an wie die Alarmtöne in der Sicherheitsschleuse eines Flughafens, die anzeigt, dass man etwas Metallisches am Körper trägt. Die Haltestellen werden nicht angesagt, wahrscheinlich weiß jeder, wo er sich befindet. Es wohnt ja mehr als ein Drittel aller Bewohner des Landes in Reykjavík. Der Busfahrer hat auch anderes zu tun. Er unterhält sich mit einer sehr alten Frau, die an der Trennscheibe zwischen Fahrersitz und Fahrgastbereich lehnt und ihm von hinten ins Ohr schreit. Er dreht seinen Kopf von der Straße weg und halb zu ihr, wenn er antwortet.
    Jetzt am Morgen sind vor allem Schulkinder im Bus. Die 11 fährt durch den alten Stadtkern in Hafennähe. Von Weitem ist die Investruine des Konzerthauses Harpa zu sehen, für das der Künstler Olafur Eliasson eigentlich die Fassade hätte gestalten sollen. Auf dem Bauschild sieht sie aus, als wäre das Fischschuppenkleid des Butts vom Fischer un sin Fru über zwei Kartons geworfen worden. Und dieses Märchen kommt einem zu Recht in den Sinn, denn die Gier der isländischen Banken, die das Haus von privaten Investoren errichten lassen wollten, um einen kulturellen Repräsentationsort für ihre »Schweiz des Nordens« zu haben, hat dazu geführt, dass Island mit waghalsigen Finanztransaktionen an den Rand des Staatsbankrotts gebracht wurde. Das isländische Finanzwesen wurde wie ein Spielkasino betrieben, in dem es am Ende nur Verlierer gab. Und einen Betonklotz, von dem man nicht genau zu sagen vermag, ob er ein Kernkraftwerk, eine Shopping Mall oder ein kultureller Ort werden sollte. Jeden Tag kommen die Mitarbeiter der gegenüberliegenden Zentralbank nicht darum herum, einen Blick darauf zu werfen. Die Banken sind inzwischen verstaatlicht, die isländische Krone hat zeitweise

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