Mit dir an meiner Seite
dauernd standen unzählige Lastwagen an der Baustelle.
»Worüber?«, fragte Ronnie zurück.
»Über Will. Wieso ihr Schluss gemacht habt.«
Sie schaute ihren Vater verdutzt an. »Woher weißt du das?«
Mit einem Achselzucken antwortete er: »Ich weiß es, weil du ihn in den letzten Wochen immer nur nebenbei erwähnt hast. Und du telefonierst nie mit ihm. Es ist nicht schwer, daraus zu folgern, dass etwas vorgefallen sein muss.«
»Ach, es ist alles so kompliziert«, seufzte Ronnie. Wortlos gingen sie ein paar Schritte, dann nahm Steve noch einmal Anlauf. »Ich weiß nicht, ob das für dich wichtig ist, aber ich finde, er ist ein großartiger junger Mann.«
Sie hakte sich bei ihm unter. »Ja, es ist mir sogar sehr wichtig. Und ich finde das auch.«
Inzwischen hatten sie die Kirche erreicht. Die Arbeiter schleppten Bretter und Farbkanister durch die Gegend, und wie immer suchten Ronnies Augen die leere Stelle unterhalb des Turms. Das Fenster war noch nicht eingesetzt worden - zuerst mussten die anderen Baumaßnahmen abgeschlossen sein, damit die empfindliche Glaskonstruktion nicht auseinanderbrach. Dad ging trotzdem immer gern in die Kirche. Er freute sich, dass die Arbeiten jetzt so flott vorangingen, aber nicht nur wegen des Fensters. Immer wieder erwähnte er, wie bedeutungsvoll die Kirche für Pastor Harris war und wie sehr der Pfarrer es vermisst hatte, in dem Gotteshaus zu predigen, das schon so lange seine zweite Heimat war.
Pastor Harris war stets zur Stelle, und wenn sie sich bemerkbar machten, begleitete er sie anschließend meistens bis nach Hause. Jetzt entdeckte Ronnie ihn auf dem Parkplatz. Er sprach mit jemandem und gestikulierte dabei lebhaft in Richtung Kirche. Sogar aus der Ferne merkte man, dass er lächelte.
Ronnie wollte ihm zuwinken, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, doch dann sah sie plötzlich, mit wem er sich unterhielt, und zuckte innerlich zusammen. Bei ihrer letzten Begegnung mit diesem Mann war sie völlig durcheinander gewesen, und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich von ihr zu verabschieden. War Tom Blakelee rein zufällig vorbeigekommen, um mit dem Pfarrer über den Wiederaufbau zu plaudern? Weil er neugierig war?
In den nächsten Tagen hielt sie jedes Mal, wenn sie zur Kirche kamen, Ausschau nach Tom Blakelee, sah ihn aber nicht wieder. Und ein Teil von ihr war erleichtert, dass sich ihre Welten nicht mehr überschnitten.
Nach ihren Spaziergängen zur Kirche und nach Dads Mittagsschlaf saßen sie meistens zusammen im Wohnzimmer und lasen. Ronnie beendete
Anna Karenina
und lieh anschließend
Doktor Schiwago
aus der Stadtbücherei. Irgendetwas an den russischen Schriftstellern gefiel ihr: die epische Breite der Erzählweise vielleicht, die melancholische Tragik und die zum Scheitern verurteilten Liebesaffären - und alles schien weit, weit weg von ihrem Alltag.
Ihr Vater studierte weiterhin die Bibel. Gelegentlich las er ihr eine Passage oder einen Vers vor, weil sie es wollte. Manchmal war es eine längere Stelle, manchmal eine kürzere, aber vom Thema her ging es immer um die Kraft des Glaubens. Warum, wusste sie auch nicht, aber Ronnie hatte das Gefühl, die Verse gewannen dadurch, dass er sie laut vortrug, für ihren Vater eine neue Bedeutung, die ihm bis dahin entgangen war.
Die Mahlzeiten wurden immer anspruchsloser. Anfang Oktober übernahm Ronnie das Kochen, und ihr Vater akzeptierte diese Veränderung so widerspruchslos wie alles andere im Verlauf des Sommers. Meistens saß er in der Küche und unterhielt sich mit seiner Tochter, während sie Nudeln oder Reis kochte und ein Stück Huhn oder ein Steak in der Pfanne anbriet. Zum ersten Mal seit Jahren bereitete sie Fleisch zu. Wenn sie ihren Vater ermunterte, doch etwas zu essen, kam sie sich seltsam vor, aber sie musste es tun - er hatte kaum noch Appetit. Die Speisen waren sehr schonend gewürzt, damit sie seinen Magen nicht zu sehr reizten. Zwar gab es im ganzen Haus keine Waage, aber man konnte ihn buchstäblich dahinschwinden sehen.
Eines Tages, nach dem Abendessen, erzählte sie ihrem Vater, was mit Will passiert war. Sie ließ nichts aus, weder das Feuer noch Wills Versuche, Scott zu decken, oder die Sache mit Marcus. Steve hörte aufmerksam zu. Aber als er seinen Teller wegschob, sah Ronnie, dass er fast nichts gegessen hatte.
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Ja, natürlich, Dad. Du darfst mich alles fragen.«
»Als du mir gesagt hast, dass du Will liebst - war das ernst
Weitere Kostenlose Bücher