Mit dir an meiner Seite
gemeint?«
Sie musste daran denken, dass Megan ihr die gleiche Frage gestellt hatte.
»Ja.«
»Dann denke ich, dass du vielleicht zu streng mit ihm bist.«
»Aber er hat ein Verbrechen gedeckt ...«
»Ich weiß. Aber wenn du es dir richtig überlegst - im Grunde bist du jetzt in der gleichen Situation wie er. Du kennst die Wahrheit, genau wie er. Und du hast mit niemandem darüber gesprochen.«
»Aber ich habe ja nichts getan!«
»Du hast mir erzählt, dass er auch nichts getan hat.«
»Was willst du damit sagen? Soll ich zu Pastor Harris gehen und ihm alles beichten?«
Steve schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete er zu Ronnies Überraschung. »Ich glaube nicht, dass das gut wäre.«
»Und warum nicht?«
»Ronnie«, sagte ihr Vater leise. »Vielleicht hat die Geschichte noch ein paar andere Aspekte, die du gar nicht sehen kannst.«
»Aber -«
»Ich will nicht behaupten, dass ich recht habe. Ich habe mich im Laufe meines Lebens schon in vielen Dingen geirrt. Das gebe ich ohne Zögern zu. Aber wenn alles so war, wie du es schilderst, dann möchte ich, dass du Folgendes weißt: Pastor Harris will die Wahrheit gar nicht erfahren. Wenn er sie kennt, muss er nämlich etwas unternehmen. Und du kannst mir glauben - er würde Scott oder seiner Familie nie in irgendeiner Weise schaden wollen, vor allem, wenn es ein Unfall war. Das ist nicht seine Art. Und da ist noch etwas - meiner Meinung nach das Allerwichtigste.«
»Was denn?«
»Du musst lernen zu verzeihen.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe Will schon längst verziehen. Ich habe ihm ein paar Nachrichten hinterlassen und -«
Ihr Vater ließ sie nicht weiterreden, sondern schüttelte entschieden den Kopf. »Ich meine nicht Will. Du musst zuerst lernen, dir selbst zu verzeihen.«
An dem Abend entdeckte Ronnie zwischen den Briefen, die Dad ihr geschrieben hatte, einen weiteren Brief, den sie noch nicht geöffnet hatte. Ihr Vater hatte ihn offenbar erst jetzt unter den Stapel geschoben, denn er war nicht frankiert.
Sollte sie ihn gleich lesen? Oder war er für später gedacht? Natürlich hätte sie ihren Vater fragen können, aber das tat sie nicht. Wahrscheinlich, weil sie nicht wusste, ob sie ihn überhaupt lesen wollte. Sie bekam schon Herzklopfen, wenn sie ihn nur in der Hand hielt. Es war der letzte Brief, den Dad ihr je schreiben würde.
Seine Krankheit wurde unaufhaltsam schlimmer. Zwar versuchten Vater und Tochter, die tägliche Routine beizubehalten - essen, lesen, spazieren gehen -, aber gegen die Schmerzen waren stärkere Mittel erforderlich. Manchmal war Dads Blick schon ganz glasig, doch Ronnie hatte trotzdem den Eindruck, dass die Dosierung noch nicht ausreichte. Immer wieder beobachtete sie, wie er das Gesicht verzog, während er auf dem Sofa saß und las. Dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück, die Züge schmerzverzerrt. Oft tastete er nach ihrer Hand, aber Ronnie spürte, dass sein Griff jeden Tag schwächer wurde. Seine Kräfte schwanden dahin. Alles schwand dahin. Und bald würde er gar nicht mehr da sein.
Auch Pastor Harris beobachtete diese Veränderungen. In den letzten Wochen war er fast jeden Tag zu Besuch gekommen, meistens kurz vor dem Abendessen. Er achtete in der Regel darauf, dass sich die Unterhaltung um unproblematische Themen drehte. Entweder berichtete er von den Fortschritten bei den Bauarbeiten, oder er erzählte lustige Anekdoten aus seiner Vergangenheit, mit denen er Steve hin und wieder sogar ein Lächeln entlockte. Doch manchmal schien den beiden Männern der Gesprächsstoff auszugehen - es war schwierig, dem bitteren Ernst der Wirklichkeit auszuweichen. Dann senkte sich ein Schleier der Trauer über alles.
Wenn Ronnie spürte, dass die beiden allein sein wollten, ging sie auf die Veranda, um nicht zu stören. Worüber sie wohl sprachen? Einiges konnte sie sich denken: Sie sprachen sicher über den Glauben oder die Familie. Vielleicht auch über die Dinge im Leben, die sie bedauerten. Und ganz bestimmt beteten sie miteinander. Ronnie hatte das einmal gehört, als sie ins Haus ging, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Gebet des Pfarrers hatte fast wie ein Flehen geklungen. Er schien um Kraft und Stärke zu bitten, als hinge sein Leben davon ab. Ronnie schloss die Augen und sprach stumm ihr eigenes Gebet.
Mitte Oktober war es drei Tage lang für die Jahreszeit viel zu kühl, sodass man morgens ein Sweatshirt anziehen musste. Nach den Monaten erbarmungsloser Hitze genoss Ronnie
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