Mit dir an meiner Seite
kann das nie wieder gutmachen, aber in gewisser Weise habe ich das Gefühl, dass du mich gerettet hast. Dass dein Vater jetzt schwer krank wurde, das ist so unfair ... und ich möchte dich gern irgendwie unterstützen.«
Ronnie nickte nur.
»Und noch etwas - wir müssen ja nicht unbedingt befreundet sein, aber wenn du mich wiedersiehst, dann sag bitte Galadriel zu mir. Ich kann den Namen Blaze nicht mehr ausstehen.«
Jetzt grinste Ronnie. »Wird gemacht, Galadriel.«
Wie Galadriel angekündigt hatte, rief die Staatsanwältin am Nachmittag an, um ihr mitzuteilen, dass die Anklage fallen gelassen wurde.
Abends, als ihr Vater schon schlief, stellte Ronnie die Regionalnachrichten an. Sie war sich nicht sicher, ob darüber berichtet wurde, aber dann kam es doch, direkt vor dem Wetterbericht, eine Dreißigsekundenmeldung, dass »im Rahmen der Ermittlungen wegen des Brandes in einer Kirche vergangenes Jahr ein neuer Verdächtiger verhaftet wurde«. Anschließend erschien ein Foto von Marcus auf dem Bildschirm, mit einer kurzen Auflistung seiner bisherigen Vergehen. Ronnie stellte schnell den Fernseher aus. Sie konnte nicht anders - aber diese kalten, toten Augen irritierten sie immer noch.
Sie dachte an Will und an seinen Wunsch, Scott zu schützen. Dabei hatte dieser die Tat gar nicht begangen. War es wirklich so schlimm, fragte sie sich, dass die Loyalität einem Freund gegenüber sein Urteilsvermögen getrübt hatte? Zumal sich jetzt herausstellte, dass die Wahrheit ganz anders aussah? Ronnie fühlte sich unsicher. Sie hatte sich in so vielen Dingen geirrt, die alle möglichen Menschen betrafen: ihren Dad, Galadriel, ihre Mutter und auch Will. Das Leben war wesentlich komplizierter, als sie als schlecht gelaunter Teenager in New York gedacht hatte.
Kopfschüttelnd ging sie durchs Haus und löschte die Lichter. Das Leben in Manhattan - eine Party nach der anderen, Highschool-Tratsch, Streitereien mit ihrer Mutter -, all das kam ihr vor wie eine fremde Welt, eine Existenz, die sie nur geträumt hatte. Heute gab es nur dies: ihre Strandspaziergänge mit Dad, das stetige Rauschen der Wellen, der Geruch des nahenden Winters.
Und die Frucht des Heiligen Geistes: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.
Halloween kam und ging, und mit jedem Tag wurde ihr Vater schwächer.
Sie konnten nicht mehr am Strand spazieren gehen, weil es ihn zu sehr anstrengte. Morgens, wenn Ronnie sein Bett machte, fand sie ganze Haarbüschel auf seinem Kopfkissen. Weil sie wusste, dass die Krankheit jetzt unbarmherzig zuschlug, trug sie ihre Matratze in sein Zimmer, falls er nachts Hilfe brauchte - aber auch, um noch möglichst lange in seiner Nähe sein zu können.
Das Schmerzmittel war so hoch dosiert wie nur möglich, und es schien trotzdem nicht zu genügen. Wenn sie nachts neben ihm auf dem Boden schlief, gab er oft wimmernde Schreie von sich, die ihr durch und durch gingen. Das Medikament befand sich direkt bei seinem Bett, und wenn er morgens aufwachte, griff er gleich danach. Ronnie setzte sich dann zu ihm, legte den Arm um ihn und drückte seinen zitternden Körper an sich, bis die Schmerzen etwas nachließen.
Aber die Nebenwirkungen konnte man nicht übersehen. Er war unsicher auf den Füßen, und Ronnie musste ihn stützen, selbst wenn er nur ein paar Schritte gehen wollte. Obwohl er so stark abgenommen hatte, war es nicht einfach für sie, ihn aufzufangen, wenn er stolperte.
Zwar beklagte er sich nie, aber in seinen Augen konnte sie sehen, dass er von sich selbst enttäuscht war - als würde er sie im Stich lassen.
Er schlief bis zu siebzehn Stunden am Tag, und Ronnie war dann mehr oder weniger allein im Haus. Immer wieder las sie die Briefe, die er ihr früher geschrieben hatte. Den letzten Brief hatte sie noch nicht geöffnet, aber manchmal nahm sie ihn in die Hand und versuchte, die nötige Kraft zu finden.
Fast täglich rief sie in New York an. Sie versuchte, die Zeiten so zu legen, dass Jonah gerade von der Schule nach Hause kam. Oder sie telefonierten nach dem Abendessen. Ihr kleiner Bruder wirkte oft bedrückt, und wenn er sich nach Dad erkundigte, bekam Ronnie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht die ganze Wahrheit sagte. Aber sie durfte ihn nicht überfordern, und ihr fiel auch auf, dass Dad sich immer, wenn er mit Jonah sprach, bemühte, möglichst lebhaft zu klingen. Danach blieb er meistens in dem Sessel beim Telefon sitzen, weil er von der Anstrengung
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