Mit dir ins große Glueck
Brief auch viel zu verzweifelt und ehrlich.
"Kommst du noch auf ein Bier mit?" Paulchen, der Chefredakteur, betrat das Büro, ohne anzuklopfen. "Ich habe beschlossen, heute ein bisschen früher Feierabend zu machen. Ich habe noch drei Überstunden, also kann ich es mir leisten."
Gary verzog das Gesicht. "Am liebsten würde ich ja sagen: Danke, gern. Aber heute kann ich nicht. Ich habe Francis versprochen, ihr einen Besuch abzustatten. Sie hat mich gestern Abend spät noch angerufen und sich bitter beklagt, dass niemand sich um sie kümmert. Ihr könntet euch auch ein bisschen anstrengen", fuhr er tadelnd fort.
Paulchen winkte ab. "Ich habe auch schon daran gedacht, aber jetzt muss ich dir ehrlich gestehen, dass ich mich gar nicht hin traue. Ich kenne Francis nur zu gut und weiß, dass sie eine ganz schöne Anklage vom Stapel lassen wird. Wie stellt die Frau sich das eigentlich vor? Sollen wir vielleicht einen Besuchsplan aufstellen, damit jeden Abend ein anderer von der Redaktion an ihrem Bett sitzt und Händchen hält?"
Gary lachte herzlich. "Das wäre gar keine so schlechte Idee. Zumindest Francis würde davon profitieren. Sieh mal, Paulchen, was ich heute bekommen habe. Was soll ich tun? Was meinst du?" Er reichte dem Chefredakteur den Brief des neunjährigen Mädchens.
Paulchen begann zu lesen, grinste erst, doch dann wurde sein Gesicht ernst. Kopfschüttelnd gab er Gary den Brief zurück. "Glaubst du das?"
"Ich weiß es nicht." Der Redakteur zuckte die Schultern. "Ich kann den Brief doch nicht einfach ignorieren?"
"Kannst du auch nicht. Doch willst du ihn in der Zeitung beantworten? Ich kann mir nicht vorstellen, was du dem Mädchen raten willst, das alle Leser interessiert. Außerdem habe ich das Gefühl, das ist alles viel zu persönlich, falls es überhaupt stimmt."
"Genau den Gedanken hatte ich auch. Ich habe schon überlegt, ob ich einmal nach Mühlheim fahre. So groß ist der Ort ja nicht."
"Und was willst du dort?" fragte der Chefredakteur und lachte leise. "Glaubst du, du könntest von Haus zu Haus gehen und fragen, wo eine geschiedene Frau mit einem neunjährigen Mädchen wohnt? So klein kann der Ort gar nicht sein, dass du auf diese Weise jemanden findest."
"Ist ja schon gut, Paulchen", wehrte Gary verlegen ab. "Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Doch ich muss gestehen, der Brief hat mich tief berührt. Ich würde den beiden zu gern helfen."
"Und wie?" fragte der Chefredakteur und strich mit beiden Händen über sein schlohweißes Haar. Er hatte die fünfzig bereits seit einigen Jahren überschritten, und das doch recht hektische Leben war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. "Zumindest müsstest du sie erst einmal finden. Kein einfaches Unternehmen."
"Ist ja schon gut, Paulchen. Es war ja auch nur so ein Gedanke." Gary ließ den Brief in seiner Jackentasche verschwinden, nahm seine Aktentasche und verließ zusammen mit dem Chefredakteur die Redaktion. Am Parkplatz trennten sich die beiden mit Handschlag, und jeder stieg in sein Auto.
Insgeheim musste sich Gary eingestehen, dass er lieber mit Paulchen in irgendeine Kneipe gegangen wäre, um noch eine Weile über diesen Brief zu diskutieren. Stattdessen musste er zu Francis in ihre gestylte Wohnung fahren und mit ihr gepflegte Konversation praktizieren.
"Endlich kommt mal jemand", wurde er von der Frau begrüßt, die in einem hellen Einzelzimmer lag. "Ich hab schon gedacht, ihr hättet mich alle vergessen."
"Was tust du denn noch hier, Francis?" versuchte Gary einen Scherz. "Ich dachte, du wärst längst zur Erholung zu deinen Eltern gefahren. Fühlst du dich eigentlich wohl dabei, so lange auf der faulen Haut zu liegen? Mach, dass du aus dem Bett kommst."
"Du hast leicht reden, Gary." Sie reichte ihm die rechte Hand und klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn gar nicht wieder loslassen. "Ich will ja, aber der Doktor hat es verboten", jammerte sie. "Es ist so langweilig, hier nur den ganzen Tag herumzuliegen und darauf zu warten, dass es Abend wird. Niemand ruft an, keiner kommt vorbei, um mich zu besuchen. Ich glaube, die ganze Welt hat mich vergessen."
"Das stimmt doch gar nicht." Gary zog sich einen Stuhl zum Bett und setzte sich. "Abgesehen davon, dass dich die ganze Welt überhaupt nicht kennt, kommen jeden Tag eine Menge Briefe für Tante Frieda. Einen davon habe ich dir mitgebracht." Im nächsten Moment bereute er, von dem Brief
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