Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
des altorientalischen Rechts. Er folgt – aus moderner Sicht betrachtet – keinem System und keiner Ordnung. Wie sehr auf Strafe als Abschreckung gesetzt wurde, zeigt schon der erste Paragraf: »Wenn ein Mann einen anderen bezichtigt und ihn verdächtigt hat, einen anderen Menschen getötet zu haben, es aber nicht beweisen kann, wird der, der ihn bezichtigt hat, getötet.«
Die Menschen haben sich entwickelt, Staaten haben sich entwickelt – und damit das Recht dieser Staaten. Der Einfluss der Politik weitete sich aus, der moralische Aspekt verlor an Wichtigkeit – dazu wurden immer mehr Gesetze eingeführt. Uwe Wesel hat das in seinem Buch in einer schönen Grafik dargestellt.
In den vorstaatlichen Ordnungen wurden Konflikte durch Konsens gelöst, es war selbstregulierend, kompensatorisch – im europäisch-westlichen staatlichen Recht von heute entscheiden meist Gerichte über Konflikte, das Leben ist in extremer Weise gesteuert und mannigfach mit Strafe verbunden. Jeder darf für sich selbst entscheiden, welche der beiden Varianten er besser findet.
Wurden die Gesellschaften wirklich besser, nur weil man jeden Aspekt des Zusammenlebens regelte?
Recht breitete sich in den staatlichen Gesellschaften aus wie ein Krebsgeschwür. Plötzlich werden Dinge reguliert, die eigentlich niemanden etwas angehen, weil der Mensch doch eigentlich selbst für sich verantwortlich sein soll. Dass man nicht betrunken Auto fahren darf, ist verständlich, schließlich gefährdet man ansonsten seine Mitmenschen. Anschnallpflicht oder Helmpflicht dagegen sind Eingriffe in die Freiheit. Dem Menschen wird vorgeschrieben, wie er sich selbst zu schützen hat – weil der Gesetzgeber anscheinend der Meinung ist, dass der Mensch sich selbst nicht ausreichend schützt.
Das Krebsgeschwür metastasiert – und es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht vom Recht durchdrungen ist. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Bereiche werden geregelt, immer weniger Dinge sind erlaubt.
Gefällt es den Menschen, dass sie immer mehr kontrolliert werden? Dass ihnen immer mehr vorgeschrieben wird, was sie zu tun und zu lassen haben?
Wir wünschen uns den Abbau von Staatlichkeit, das zeigen zahlreiche Studien. Und tatsächlich ist das Recht bisweilen auf dem Rückzug – weg vom Staat zurück in die Gesellschaft.
Wir entwickeln uns zurück – und das ist gut so.
Im Zivilrecht wird seit einigen Jahren bei Streitigkeiten versucht, die Anrufung eines Gerichts zu vermeiden, bei Insolvenzen und Scheidungen etwa. Interessanterweise wurde die Mediation nicht nur von Juristen und Psychologen entwickelt, sondern auch von Anthropologen, die sich auf Konfliktlösung bei Stammesgesellschaften spezialisiert haben. Bei den !Kung im südlichen Afrika und den Arusha in Tansania wurden die streitenden Parteien aufgefordert, selbst eine Lösung zu finden. Was vor Tausenden von Jahren funktioniert hat, funktioniert auch heute noch. Im Strafrecht gibt es neuerdings den Täter-Opfer-Ausgleich.
Im öffentlichen Recht sind Subjektionstheorie und das Über-Unterordnungsverhältnis weitgehend verschwunden, das sich mit dem Satz zusammenfassen ließ: »Der Staat paktiert nicht!« Natürlich muss der Staat verhandeln, wir sehen das gerade beim Umweltrecht oder beim Bau von Flughäfen und Bahnhöfen. So verfuhren die Andamanen und die Semang in Südostasien, bei denen auch der Sprecher der Siedlung – er war nicht der Chef, sondern lediglich der, dem alle zuhörten – mit den Mitgliedern verhandeln musste, wenn es etwa darum ging, wie die Beute verteilt würde oder wer am nächsten Morgen zur Jagd gehen sollte.
Es hat ganz den Anschein, als würden sich nicht wenige Menschen wünschen, dass die Gesetze wieder einfacher werden, verständlicher und mit gesundem Menschenverstand begründet. Allerdings mit dem Wissen von heute, für die Gesellschaft von heute.
Das ist die Aufgabe der Gesetzgeber – und es ist eine der schwierigsten Aufgaben der Welt.
Der Essay in Intelligent Life mit der Frage nach der besten Zeit endet übrigens mit diesem Satz: »Die beste Zeit zu leben ist hier und jetzt.«
Das glaube ich auch.
Nun müssen nur noch Mediziner ein Mittel gegen Krebs finden – und wir alle eine Lösung für das Krebsgeschwür Gesetzgebung.
Wir kämpfen und kämpfen und kämpfen – und irgendwann wird dieser Planet tatsächlich besser sein als zuvor.
Denn die beste Zeit zu leben sollte heute sein – und morgen könnte es noch besser sein.
Kapitel 30
Was wirklich
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