Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
mitmacht. Am schlimmsten jedoch ist der, der dieses Unrecht durch seine Untätigkeit geschehen lässt.
Heute ist der 1. Oktober 2010 – und ich marschiere.
Eigentlich will ich nur zum Stuttgarter Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Doch das ist nicht so einfach: Am Tag davor sind die zuvor friedlichen Proteste gegen das Bahnprojekt eskaliert, 114 Demonstranten wurden ambulant behandelt, 16 davon im Krankenhaus. Sechs Polizisten wurden verletzt, 26 Protestanten festgenommen.
Vor wenigen Stunden, um 0:58 Uhr, ist im Schlosspark die erste Kastanie gefällt worden.
Kastanien abholzen finde ich nicht gut, also bin ich dabei, auch wenn ich zugegebenermaßen zufällig hineingeraten bin. Ich fühle mich wie ein Papierschiffchen in einem Wellenbad, ich werde hin und her geschaukelt, kann aber selbst auch nicht mehr bestimmen, wo ich denn eigentlich hin möchte. Also gebe ich auf und lasse mich einfach treiben. Neben mir treibt ein junges Mädchen, es ist ungefähr 15 Jahre alt. Sie trägt ein Tuch auf dem Kopf, mit Filzstift ist auf beide Wangen geschrieben: »Ich bin friedlich!« Das finde ich doch erst einmal wunderbar und nicke dem Mädchen zu. Sie lächelt freundlich zurück. Neben mir geht ein Mann, der aussieht wie der Sohn von Peter Lustig aus der Fernsehsendung Löwenzahn . Mit dem rechten Arm zieht er einen zehnjährigen Jungen hinter sich her, der lustlos dahinschlurft. Er lächelt nicht zurück. Na ja. Vor mir geht einer, der hält ein Schild hoch, das er offenbar selbst gebastelt hat. Auf diesem Schild steht: »Stoppt Stuttgart 21!« Na gut, denke ich mir, damit auch jeder weiß, worum es hier geht.
Ich bin kein Protest-Profi, meine Teilnahme an Demonstrationen beschränkt sich auf exakt zwei Gelegenheiten. Im Jahr 2003 habe ich – wie schon mal weiter vorn erwähnt – in der amerikanischen Studentenstadt Ann Arbor gegen den Irakkrieg demonstriert, bin deshalb wie alle anderen ausländischen Studenten verhaftet worden und habe eine Nacht im Gefängnis verbracht. Die Amerikaner sind dann dennoch in den Krieg gezogen. Meine zweite Demonstration hat sich gegen Studiengebühren gerichtet, ich bin durch Regensburg marschiert und habe fortwährend skandiert: »E-de Stoi-ber, Bildungs-Räuber!« Die Studiengebühren sind dennoch eingeführt worden.
Es geht um den geplanten Umbau des Stuttgarter Bahnhofs, um die Errichtung neuer Bahnhöfe, um eine neue Zugstrecke und um das Fällen von Bäumen. Viel mehr weiß ich nicht. Muss ich aber auch nicht, denn Demonstrationen haben den schönen Nebeneffekt, dass der einzelne Teilnehmer entindividualisiert wird und nur noch als Teil des Gesamtkonzepts funktioniert. Die Menschen teilen sogar ihr Essen miteinander, damit keiner hungern muss.
Wissen für Nichtjuristen
Es gibt keinen Tatbestand des
Mundraubs, der wurde im Jahr
1976 abgeschafft. Wer Lebens-
mittel stiehlt, macht sich strafbar.
(§ 242 StGB)
Die Menschen neben mir sprechen fast ausschließlich schwäbisch, keiner brüllt, keiner prügelt, keiner wirft irgendetwas. Die Leute diskutieren über die Gründe des Protests, über den schlimmen vorherigen Tag, den es nun wirklich nicht gebraucht hätte, und über die Erfolgsaussichten dieser Demonstrationen. Ein älterer Herr mit Nickelbrille auf der Nase und marmorierter Pfeife im Mund erklärt, er wäre auch schon bei den Protesten gegen die Startbahn West und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf dabei gewesen, was ihm von den anderen Teilnehmern anerkennendes Nicken und Brummeln einbringt. Dann informiert er per Handy seine Frau über den Zwischenstand der Proteste: »Alles ruhig«, sagt er. Die Menschen hier sind allesamt Bürger, aber wütend ist keiner. Noch.
Dass es sich hier um eine Demonstration handelt, die durchaus auch kippen kann, daran erinnern die zahlreichen Polizisten, die am Rand herumstehen. »Schon Wahnsinn, was die hier alles angefordert haben«, sagt eine Beamtin. Sie kommt aus Nordrhein-Westfalen. Wenn sie sich mit ihren Kollegen unterhält, wird einem klar, dass die meisten Beamten nicht aus Baden-Württemberg sind. »Ich weiß gar nicht genau, worum es hier geht«, sagt einer, dessen Herkunft ich aufgrund des Dialekts nach Thüringen verorte, »hat mich aber nicht zu kümmern.«
Wenn man in die Gesichter von Demonstranten und Polizisten blickt, dann glaubt man fast immer diesen einen Gedanken auszumachen: Bitte, keine Gewalt heute – aber wenn einer anfängt, dann kann ich für nichts garantieren. Das ist beängstigend. Darum, ob
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