Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
dieses Bahnprojekt sinnvoll ist oder nicht, darum geht es hier schon lange nicht mehr. Der 40-Jährige neben mir protestiert, weil er fürchtet, dass sein Grundstück an Wert verlieren könnte. Die Frau dahinter ist gekommen, weil sie die CDU nicht mag und glaubt, dass jeder Protest gegen diese Partei irgendwann zu ihrem Ende führen wird. Das Mädchen mit der Friedensaufschrift im Gesicht sagt, dass es gerne an Demonstrationen teilnimmt. Der Mann mit Pfeife und Nickelbrille will das Gefühl von damals noch einmal spüren.
Menschen sind unterschiedlich, sie haben unterschiedliche Meinungen, sie glauben an unterschiedliche Dinge. Das ist das Herausragende an dieser Spezies. An diesem Tag haben diese Menschen hier etwas gemeinsam: Sie stehen dafür ein, woran sie glauben. Die einzelnen Motive mag man für verwerflich oder töricht halten, nur gehört es zu den bedeutsamsten Rechten eines Menschen, auch für etwas einstehen zu dürfen, das ein anderer für falsch halten mag.
Einer der ersten Rebellen in der Geschichte der Menschheit war Jesus, wenn man mal darüber nachdenkt.
Es geht hier nicht um einen Bahnhof. Es geht um die Gemeinschaft, um den Glauben daran, durch Beteiligung etwas verändern zu können. Das ist ein Gefühl, das viele Menschen schon lange nicht mehr hatten. Es ist ein schönes Gefühl. Mir ist der Bahnhof recht egal, aber ich finde es schön, dabei zu sein bei diesen Menschen, die glauben, etwas zu verändern. Jeder mag aus egoistischen Gründen hier sein, aber uns eint, dass wir hier sind.
Der amerikanische Autor John Jeremiah Sullivan beschreibt dieses Paradoxon in seinem Essay »American Grotesque«. Natürlich wolle kein Amerikaner jemals wieder den 12. September 2001 erleben, den Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon. Aber: »Ist es komisch, sich nostalgisch an diesen Tag zu erinnern? An diesem Tag nach September 11, als es kein Rot und kein Blau gab, kein Links und kein Rechts, nur Amerikaner, vereint, bereit. Menschen in New York City haben in den Straßen Bush applaudiert, Menschen, die nicht für ihn gestimmt hatten und die 2004 nicht für ihn stimmen würden. Er war der Präsident.« Es war ein Tag, an dem die Amerikaner zum ersten Mal seit langer Zeit einfach nur Amerikaner waren.
Natürlich ist Stuttgart 21 nicht mit den Terrorakten des 11. September vergleichbar, das Gefühl unter den Menschen, die da marschieren, ist zwar nicht so ausgeprägt, aber doch vergleichbar. Sie sprechen miteinander, sie teilen ihre Brotzeit, sie leihen sich gegenseitig die Telefone aus, um mit ihren Verwandten sprechen zu können. Protest schweißt zusammen, warum denn auch nicht?
Protest ist en vogue derzeit.
»Das ist meine 30. Demonstration in diesem Jahr«, sagt das Mädchen mit der Friedensaufschrift. Das Interessante sei, dass es in fast jeder deutschen Stadt ein Projekt gibt, das den Menschen nicht passt: In Leipzig gibt es den Tunnel, in München die zweite Stammstrecke, in Regensburg das Fußballstadion. In Chemnitz gibt es die Brücke am Falkeplatz, in Berlin den Steglitzer Kreisel und einen Flughafen, den es nicht gibt und über den jeder lacht. In Scharbeutz den Soda-Turm. So-da-Brücken – also Brücken, die einfach nur »so da« sind – gibt es in ganz Deutschland.
In meiner Heimatstadt haben sie kürzlich auch so eine Brücke hingestellt und sie »Himmelsleiter« genannt. Brücken sind eine prima Sache, vor allem, wenn sie irgendwo drüberführen. Diese Brücke steht aber nur da, damit die Menschen über die Waldnaabau blicken können. Ansonsten ist sie sinnlos. Und meistens leer, weil Menschen, wenn sie eine Brücke benutzen, auch gerne irgendwie drübergehen.
Überall in Deutschland gibt es sinnfreie Projekte, weil ein Politiker sich ein Denkmal setzen oder mit einer Architektin ins Bett wollte. Doch wie oft protestieren Menschen wirklich dagegen? Und dann müssen sie sich anhören, dass sie sich gegen die Zukunft stellen würden.
Das findet auch das Friedensmädchen: »Die Deutschen motzen nur, aber sie trauen sich selten auf die Straße – und wenn sie kommen, dann gibt es meistens langweilige Märsche mit langweiligen Schildern und langweiligen Menschen.«
(Un-)Wichtiges Wissen
Das Recht auf Demonstrationen
ist sogar im Grundgesetz ver-
ankert (Artikel 8). Eine der ers-
ten Demonstrationen fand am
3. September 1911 in Berlin statt:
200000 Menschen setzten sich für
den Erhalt des Friedens ein.
Adrenalin-Junkies sollten lieber nach Amerika
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