Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
Verbotsschild. Irgendwann gab er auf.
Nach vier Wochen war es dann so weit. Nach einigen erfolglosen Versuchen verrät mir mein Bekannter Gerhard einen Ort in Deutschland, an dem man sich tatsächlich umdrehen kann, ohne ein einziges Schild zu sehen. Der Ort befindet sich in Bremen – und natürlich beschließe ich, ihn aufzusuchen.
Auf der Fahrt nach Bremen habe ich die wildesten Vorstellungen, was man an so einem Platz machen könnte: einen Bison grillen, ein Feuerwerk zünden, nackt durch die Gegend hüpfen und dabei wild onanieren. Ich weiß es nicht, die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Als würde man ein acht Jahre altes Kind in einem Spielzeuggeschäft aussetzen, das an eine Schokoladenfabrik angeschlossen ist und an ein Kino, in dem nur Comics gezeigt werden.
»An Knoops Park 1«, sage ich dem Taxifahrer am Bahnhof. Als ich 20 Minuten später aus dem Wagen steige, drehe ich mich ein Mal um die eigene Achse und sehe 13 Schilder. Dann gehe ich in eine Allee und weiß von nun an, was ein »eingeschränktes Lichtraumprofil durch Bäume« ist. Es fehlt aber das Schild, das mir das mitteilt. Rechts erkennt man ein weißes Haus, links nur Bäume. Es riecht nicht nach Freiheit, sondern nach Holz und irgendwie auch nach Hundescheiße. Ich gehe zwanzig Meter, dann bin ich da.
Das ist er also, der Ort ohne Schilder.
Ich drehe mich ein Mal, es gibt tatsächlich kein einziges Schild. Kein Verkehrsschild, kein Hinweisschild, kein Pfosten, kein Warnschild. Nichts. Ich schließe die Augen, dann atme ich ein und wieder aus. Ich denke an all die Dinge, die an so einem Ort möglich sind.
Ich warte auf eine Epiphanie – ich meine, an so einem Ort kann so was schon passieren. Man muss nicht immer auf einen Berg steigen oder in einen Floating-Tank, um Ruhe und Kreativität zu verspüren. Mir genügt schon ein Platz, an dem es keine Verbote gibt. Ich warte auf ein Woodstock-Gefühl, auf den Leonardo-DiCaprio-Titanic-König-der-Welt-Moment und den Gedanken, den Pearl Jam im Song »Given to Fly« beschreiben.
Ich bin nicht Leonardo DiCaprio, der in Woodstock »Given to Fly« hört. Ich bin Jürgen Schmieder in Bremen mit einem Bier in der Hand. Das Bier schmeckt genauso wie an allen anderen Orten auch, es riecht penetrant nach Hundescheiße – und die Jogger, die hin und wieder vorbeilaufen, wissen gar nicht zu schätzen, dass sie einen heiligen Ort passieren.
Ich überlege schon, ein Hinweisschild aufzustellen: »Das hier ist der Ort ohne Schilder!«
Ich muss ein wenig kichern, als mir die Unsinnigkeit dieses Gedankens bewusst wird.
Nach fünf Minuten ist mir langweilig. Ich habe keinen Bison zum Grillen dabei und auch keine Feuerwerkskörper – und fürs Nackt-Herumhüpfen ist es mir einfach zu kalt. Ich spaziere ein wenig zum Fluss hin; es sieht ein wenig aus wie im Computerspiel »Die Sims«, in dem sich auch alle Menschen in der gleichen Geschwindigkeit recht hölzern bewegen. Natürlich sehe ich auch wieder die ersten Schilder. Sie haben damit zu tun, nicht in den Fluss zu hüpfen und nur ja nicht in verschiedenen Positionen die Rutsche am Spielplatz zu benutzen.
Ich will schnell zurück zum Platz ohne Verbote und werde dabei von einer älteren Frau begleitet, die ihren Hund ausführt.
»Wissen Sie eigentlich«, beginne ich feierlich, »wissen Sie eigentlich, dass wir gleich an einen besonderen Ort kommen?«
Sie sieht mich freundlich an: »Nein, warum?«
»Es ist der nach meinen Informationen einzige Ort in Deutschland, an dem man keine Schilder sieht, wenn man sich um die eigene Achse dreht.«
»Hier? Ach nee! Wirklich? Das ist aber schön!«
Ich freue mich, weil diese Frau keine Ahnung hatte von der Besonderheit dieses Platzes.
»Seit 20 Jahren gehe ich hier spazieren, ich wohne gleich da vorne. Das ist schon ein schönes Fleckchen Erde! Heutzutage gibt’s ja überall diese Schilder, dass sich niemand mehr auskennt und sich keiner mehr zurechtfindet! Ich wusste gar nicht, dass es so einen Ort gibt.«
»Hier sind wir!«
Wir stehen beide da und sehen uns um – und das Gefühl, mit dieser alten Frau diesen Moment zu teilen, ist tatsächlich wunderbar. Irgendwie majestätisch.
Dann stinkt es wieder nach Hundescheiße.
Der Hund der Frau legt ein wunderschönes Ei neben den Weg. Wir sehen ihm dabei zu, dann macht er ein paar Scharrbewegungen mit den Hinterbeinen und deutet dann durch Weiterlaufen an, dass er hier fertig ist.
»Einen schönen Tag noch«, sagt die Frau, dann geht sie weiter.
Ich sehe
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