Mit einem Bein im Modelbusiness
die Arme fielen, fühlte es sich schon ein bisschen an, wie nach Hause zu kommen. Wie heißt es noch in der Titelmusik von Cheers: A place where everybody knows your name.
Der Ablauf der Castings war wie immer, nur mit dem kleinen Unterschied, dass mein Bein mir dieses Mal keinen Strich durch die Rechnung machte. Gegen Ende der ersten Woche bekam ich sogar einen Termin bei Alexander McQueen, dem damals angesagtesten Designer der Welt. Mein Auftritt dauerte ganze drei Minuten: Rein, gut aussehen, raus! Es ist ja immer das gleiche Spiel. Du hast nur diesen einen kurzen Moment, um zu glänzen – entweder du schaffst es, in deinem Gegenüber irgendetwas auszulösen, was ihn fasziniert, oder eben nicht.
Alexander McQueen war das zwölfte Casting des Tages. Ich war bereits zehn Stunden auf den Beinen, sah schon etwas mitgenommen aus und hatte meinen Modelmodus längst auf emotionslosen Autopilot gestellt. Trotzdem spürte ich, dass sie mich mochten. Der Vibe stimmte.
Der König von Mailand
Zwei Tage später klingelte mein Handy. Ich saß mit den Jungs in der Küche beim Abendessen. Dass die mich auch immer dann erwischen, wenn ich am Futtern bin, dachte ich leicht grummelig und ließ es noch ein paar Mal läuten. Ich spießte ein Stückchen Hähnchenfilet auf die Gabel und nahm ab.
» Yo!«
» Mario, ich hab mal wieder einen Last-Minute-Call für dich!«
» Jetzt noch?«, schmatzte ich genüsslich. Roberto, der Sizilianer, hatte vorzüglich für uns gekocht. Seine Spezialsoße à la Mama war der absolute Hammer und trotzdem kalorienarm, wie er uns hoch und heilig versicherte. Ohne Witz, ich hätte darin baden können.
» Ja, jetzt sofort!«, rief mein Booker aufgeregt.
» Ich weiß nicht«, sagte ich und deutete mit der freien Hand auf die Pfanne, um zu signalisieren, dass ich noch einen kleinen Nachschlag Hähnchen wollte. » Bock hab ich eigentlich keinen mehr. Für wen wäre das denn?«
» Halt dich fest! Alexander McQueen will dich.«
» BOOOM !«, rief ich und schlug mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass meine Gabel im hohen Bogen durch die Luft flog. » Wie geil ist das denn!«
» Jaja. Lass alles stehen und liegen. Du musst auf der Stelle ins Fitting.«
Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits kurz nach 22 Uhr. Mein Booker gab mir die Adresse durch, und ich blickte in acht neugierige Gesichter.
» Nun sag schon. Für wen?«, fragte Sebastian stellvertretend für alle.
» Alexander McQueen«, sagte ich ein bisschen verlegen, aber überglücklich und streckte meine rechte Hand zum Abklatschen in die Höhe.
Das Casting lag nur zwanzig Minuten vom Apartment entfernt. Ich war super aufgeregt. Ich meine, wenn das Team von Alexander McQueen mich so spät noch sehen wollte, dann war das schon eine Ansage. Auf der anderen Seite – wie oft hatte ich das schon gedacht, und nichts passierte. Egal, alles was mir auf dem Weg zur U-Bahn durch den Kopf ging, war: Alexander McQueen will dich sehen! Alexander McQueen will dich sehen! Alexander McQueen will dich sehen! Alter, wenn du diesen Job absahnst, bist du der König von Mailand.
Er oder ich
Die Show sollte bereits am übernächsten Tag stattfinden, weswegen in der umfunktionierten Lagerhalle auch um diese Uhrzeit noch reger Betrieb herrschte. Um die fünfzig Leute waren kreuz und quer am Schreien, Rennen, Nähen und Schneidern, Designer diskutierten wild gestikulierend vor einer großen Fotowand, auf den Tischen lagen unzählige Zeichnungen und Skizzen, und an fahrbaren Kleiderständern hingen bereits Teile der neuen Kollektion. Irgendwie wirkte dieses Bild unwirklich, wie aus dem Drehbuch eines viel zu kitschigen Bollywood-Filmes. Es war wunderbar.
Dann entdeckte ich meinen direkten Konkurrenten Paul Boche, was mich nicht unbedingt fröhlicher stimmte. In den vergangenen Tagen hatte ich ihn auf fast jedem Casting getroffen. Kein Wunder, denn wir besitzen das identische Model-Profil, abgesehen von meinem Bein natürlich. Sein Look ist etwas androgyner als meiner, und er hat dieses Mädchenhafte an sich, was aktuell ja wieder total hip ist. Auch seine Wangenknochen sind definierter und seine Augen ein bisschen mehr glubschy als bei mir.
Er war gerade mit der Anprobe fertig, hatte sich schon umgezogen, und wir sagten uns im Vorübergehen kurz Hallo. An der Wand hingen nur zwei Fotos – eins von Paul und eins von mir –, und da wir uns auch das gleiche Outfit teilen mussten, war klar, dass einer von uns heute das große Los ziehen würde.
Ein
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