Sehnsuchtsvoll denkt Katie daran, wie es jetzt im Garten aussehen mag, an die Tautropfen, die wie Diamanten auf den Blütenblättern und den Grashalmen glitzern. Sie liebt es, zuerst Unkraut zu jäten und sich dann mit einer Tasse Tee zum Frühstück hinzusetzen. Ramona sagt, sie gehöre zu den Lerchen, was auch immer das bedeuten mag. Lily ist eher eine Eule und erledigt die Gartenarbeit bevorzugt abends, obwohl sie langärmelige Sachen tragen und sich mit diesem grauenhaft stinkenden Mückenschutz einsprühen muss. Katie versteht nicht, wieso sie nicht auch lieber früh aufsteht, dann hätte sie dieses Problem nicht.
Sie öffnet die Mail ihrer Mutter und liest sie noch einmal. Beim ersten Mal war ihre Kehle wie zugeschnürt gewesen, und sie hatte gegen die Tränen kämpfen müssen, weil alles so deprimierend gewesen war – die vielen Rechtschreib- und Grammatikfehler und die Tatsache, dass ihre Mutter alles in Großbuchstaben schreiben muss, als würde sie einem ins Gesicht schreien. Aber genauso ist sie ja auch. Laut. Wie ein Hurrikan oder ein Tornado.
Bevor Katie hierherkam, hatte sie keine Ahnung, wie schön es sein kann, wenn alles so ruhig und geordnet ist. So verlässlich. Sie könnte genau in dieser Sekunde an den Schrank gehen und sicher sein, dass eine Schachtel Müsli drinsteht. Auf der Arbeitsplatte wartet eine Schale mit Bananen und Orangen, und im Kühlschrank ist immer frische Milch. Ganz früher war es in Katies Leben genauso, damals, als ihre Mom und ihr Dad noch zusammen waren. Aber auch bevor Lacey als anderer Mensch aus dem Irak zurückgekommen war, hatte es oft nur das Nötigste zu essen gegeben. Lacey achtete streng auf ihre Figur und wollte, dass auch Katie sehr schlank war, deshalb brachte sie ihr bei, das Mittag- und manchmal auch das Abendessen ausfallen zu lassen.
Katie hatte das nie gemocht, sondern immer riesigen Hunger gehabt. Auch jetzt, allein beim Gedanken daran, muss sie aufstehen und sich eine Banane nehmen. Sie schält sie und isst sie, einfach nur, weil sie da ist und sie es tun kann. Währenddessen liest sie die Mail wieder und wieder.
Ihr Dad ist aus dem Koma aufgewacht, was gut ist, aber so wie Sofia es ihr erklärt hat, klang es, als würde es noch sehr lange dauern, bis er wieder richtig gesund ist. Was aber irgendwie auch logisch ist.
Deshalb überlegt Katie, wo sie weiterhin wohnen wird. Bei Ramona den Sommer zu verbringen ist eine Sache, aber wie soll sie es bewerkstelligen, dass sie auch weiterhin hierbleiben darf? Lilys Vorschlag, nach Texas zu fliegen, kommt ihr wieder in den Sinn, und sie spürt denselben blöden eifersüchtigen Stich. Immerhin ist sie meine Enkelin, hat Lily gesagt. Bis zu diesem Moment hatte Katie gedacht, endlich eine eigene Großmutter gefunden zu haben, aber das war natürlich komplett schwachsinnig. Weshalb sollte eine Großmutter ein wildfremdes Mädchen lieber mögen als ihre leibliche Enkeltochter?
Katies einzige Blutsverwandte sind ihre Mom und ihr Dad. Sie muss dafür sorgen, dass die Beziehung zu ihnen weiterhin bestehen bleibt. Denn die Beziehung zu diesen Menschen hier wird nicht ewig halten. Das darf sie nie vergessen.
Sie. Wird. Nicht. Ewig. Halten.
Sie drückt auf »Antworten« und beginnt zu schreiben:
An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Hier läuft auch alles gut
Liebe Mom,
ich hab mich so gefreut, von dir zu hören. Klingt, als würde es dir echt besser gehen. Ich hoffe, das bleibt auch so. Ich arbeite jetzt in der Bäckerei; nur so ein bisschen, zum Beispiel bringe ich die frischen Sachen nach vorn in den Laden und so. Und ich kriege auch Geld dafür. Natürlich ist es kein richtiger Job, weil ich noch zu jung dafür bin, aber trotzdem gefällt es mir sehr.
Und ich lerne eine Menge über Blumen. Es gibt Hunderte verschiedene Dahlien-Arten, wusstest du das? Und sie sind so wunderschön. Lily, Sofias Großmutter, hat alle möglichen in ihrem Garten. Manche haben gekräuselte Blütenblätter, manche ganz spitze, und es gibt Tausende Farben. Mir macht Gartenarbeit riesigen Spaß. Hier gibt es auch einen Gemüsegarten, aber die Blumen mag ich am allerliebsten.
Ich habe zwanzig Dollar gespart. Die schicke ich dir gleich morgen früh. Und bitte hör auf zu rauchen! Ich weiß, dass es schwer ist, aber es ist total ungesund. Schreib mir bald wieder.
Ich hab dich lieb, Katie
PS : Dad ist aus dem Koma aufgewacht. Er wird bald wieder gesund.
ZWEIUNDDREISSIG
Ramona
E s ist Sonntag. Ich
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