Mit falschem Stolz
zuzuschauen?«
Alyss überlegte kurz. Sie selbst hatte wenig Freude daran, diesem Mummenschanz beizuwohnen, aber sie spürte die begehrlichen Blicke des Hauswesens, einschließlich derer von Hilda, die an derartig kindlichen Vergnügungen ihren Spaß hatte.
Natürlich, vorhin hatte sie selbst gesagt, dass heute wenig Pflichten anstanden, und so nickte sie.
»Begleitet Merten zum Markt. Auch du, Hilda. Der Falke, Frieder, wird auch noch einen Tag warten können, und die Bücher im Kontor ebenfalls. Ich hingegen will mir ein paar Stunden der Besinnung gönnen.«
Verhaltener Jubel brach aus, und als die Schüsseln und Becher gespült waren, zog der kleine Tross davon. Lore allerdings war auch nicht dabei, sie zockelte nach dem Essen mit Gänsen und Esel wieder zum Teich.
Alyss verschnaufte, als sie alleine im Haus war. Dann kramte sie aus ihrer Truhe das Büchlein des bescheidenen Dichters Freigedank hervor und setzte sich ans Fenster, um wieder einmal einige seiner klugen Worte zu lesen und darüber nachzusinnen. So fand sie diesmal den Spruch über die Wahrheit bedenkenswert:
»Sag ich die Wahrheit allezeit,
Ich fände manchen Widerstreit;
Das muss ich oft im Stillen klagen,
Man kann zu viel des Wahren sagen;
Sagt ich, was ich weiß, nur halb den andern,
Müsst ich bald auf fremdem Boden wandern.«
Wahrheit, das hatte sie in den vergangenen Wochen gelernt, hatte viele Seiten. Manche sahen die eine, die andere nicht. Ja, sie hatte mit Arndt gehadert. Das hatte man ihr zum Vorwurf gemacht. Doch Arndt war ein Betrüger und Brudermörder gewesen. Das hatten die einen gesehen und geschwiegen, die anderen konnten es nicht sehen oder wollten es nicht. Ein Richter hatte ein schweres Amt, wenn er ein gerechtes Urteil fällen wollte.
Hier fiel ihr der Schöffe Endres Overstoltz ein, der mit Scheuklappen die Wahrheit gesucht hatte. Neben all seinem falschen Stolz und der Fälschung seiner Abstammungsurkunde war das sein größter Fehler gewesen. Ein Bastard war nicht deswegen unfähig, ein hohes Amt auszufüllen, weil er nicht ehelich geboren war. Man hätte über seine Herkunft schweigen können, wenn er klug und umsichtig nach Recht und Unrecht unterschieden hätte.
Zu vielen solchen Überlegungen kam Alyss, während sie auf den Hof hinaussah, auf dem Benefiz und Malefiz friedlich nebeneinander lagen und dösten.
Der Kater jedoch stand eben auf und streckte sich, der Spitz kläffte erfreut auf und trabte mit dem schwanzlosen Hinterteil wackelnd zur Toreinfahrt.
Kurz darauf klopfte es unten, und eine Stimme rief: »Mistress Alyss, seid Ihr zu Hause?«
Ihr Herz beschleunigte seine Schläge, und mit eiligen Schritten lief sie nach unten.
»John?«
»Alyss – alles ausgeflogen?«
»Gaukler sind in der Stadt. Die Verlockung war zu groß, und so habe ich dem Hauswesen Urlaub erteilt.«
»Ja, man belustigt sich an allerlei Possen und lauter Musik. Ihr jedoch suchtet die Stille?«
»Ein wenig Besinnung. Doch schwere Gedanken machen das Hirn müde. Mögt Ihr einen Becher Wein mit mir trinken?«
»Gerne.«
Er setzte sich neben den Küchenkamin, der noch Wärme ausstrahlte, und Malefiz schlich sich zu ihm, um sich neben seinem Bein einzurollen und leise zu schnurren. Benefiz folgte ihm und legte sich über seine Füße.
»Nur gut, dass Lore mit den Gänsen und der Jennet zum Weiher gezogen ist, sonst würden sich vermutlich auch das Federvieh und der Esel um Euch versammeln«, sagte Alyss und stellte Krug und Becher auf den Tisch.
»Lasst Ihr dieses Getier auch nachts in Eure Kammer? Ich erinnere mich an einen Besuch, bei dem schon Hund und Katz mit Euch in den Federn lagen.«
»In kalten Nächten wärmen wir einander – andere Menschen suchen dazu Schwälbchen auf.«
»Ja, ja, vor allem Männer.« Er lächelte sie an. »Doch habe ich ihre Nester nur einmal besucht, um mich von ihnen wärmen zu lassen – damals, als Robert verschwinden musste.«
»Ja, ich weiß.«
»Danach habe ich ihre Freuden nicht mehr genossen.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich habe es nur behauptet, um Euch zu necken.«
»Ja, ich weiß.«
»Und was wisst Ihr nicht, my Mistress?«
»Warum Ihr die lauschigen Nestchen gemieden habt.«
John lachte leise und nahm ihre Hand.
»Weil ich eine Rose fand, dornig und zornig, in deren Ranken ich mich verfing.«
»Ich habe Euch oft gestochen, John.«
»Weil Ihr Euch wehren musstet. Das weiß ich. Doch nun, my Mistress, sind meine Fesseln gelöst. Genau wie die Euren.«
»Ja, ich
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