Mit falschem Stolz
die Zehen, die Schultern, den Kopf an und lehnte sich schließlich an einen Pfeiler. Irgendwoher kam Zugluft und brachte den fernen Geruch von brennendem, harzigem Holz mit. Unsagbar erschöpft rutschte sie an dem kalten Stein nach unten, bis sie auf dem lehmigen Boden saß. Sie legte den Kopf auf die Knie und gab dem trockenen Schluchzen nach, das sich aus ihrer Kehle drängte.
Was hatte sie nur getan?
Sie war verloren, hoffnungslos, vernichtet.
Lore, schuldbeladen und elend, konnte nicht wie Alyss Trost im Gebet finden. Sie kannte nur einen fernen Gott, einen grausamen Richter, der jedes Vergehen mit Höllenstrafen ahndete. Und die Hölle hatte sie nun selbst gewählt. Nicht die heißen Flammen, sondern die kalte Dunkelheit, in der sie für ihre Taten büßen würde. Kein Erlöser würde sich ihrer annehmen, keiner der Heiligen Fürbitte für sie leisten. Gnade hatte sie nicht zu erwarten.
Wieder huschte eine Ratte an ihr vorbei, zerrte am Saum ihres Kittels. Sie wehrte sich nicht. Es war ihr Schicksal, von den Bewohnern der Unterwelt gepeinigt zu werden.
Was hatte sie nur getan?
Dabei war sie doch einst so stolz darauf gewesen, die Hinterhältigkeiten der Menschen zu kennen, hatte Laster und Untugenden gesehen, verstanden, dass der Mensch dem Menschen eine Bestie war, nur auf eigenen Vorteil bedacht.
Bis sie Frau Alyss getroffen hatte.
Frau Alyss hatte sie aus der Dunkelheit geführt. Sie hatte ihr nicht nur Essen und Kleidung gegeben, sondern sie auch mit Achtung behandelt. Sie und ihr Hauswesen hatten Lore das Licht in der Welt gezeigt.
Und das hatte sie verraten.
Frau Alyss war in den Kerker gebracht worden.
Nur weil sie, die dumme Lore, zu spät erkannt hatte, dass sie dem Falschen vertraut hatte.
Sie wusste jetzt ganz genau, warum man Frau Alyss gefangen genommen hatte.
Vergangenen Samstag war es gewesen. Ein schöner Tag, an dem sie ihren eigenen Tätigkeiten nachgehen durfte – kein Unterricht bei den Beginen, kein Gänsehüten am Teich, keine Hausarbeit bei dem Staubmagister. Sie hatte ihre alten Freunde getroffen, sich ein paar Münzen damit verdient, Päckchen und Botschaften zu überbringen. Am Nachmittag hatte sie sich von ihrem Verdienst eine saftige Pastete gekauft und sich unten am Hafen der Niederländer auf die Kaimauer gesetzt, um zuzusehen, wie die Schiffe anlegten und entladen wurden.
Ein junger Mann hatte sich zu ihr gesetzt, ebenfalls die Beine baumeln lassen und sie fröhlich angegrinst. Er war ein hübscher Jüngling gewesen. Und sie so dumm. Seit sie Frieder und Tilo kennengelernt hatte, hatte sich ihre Sicht auf die Männer verändert. Sie waren nicht alle so wie der Schwager, der ihr ständig an den Leib grapschen wollte, oder die Kerle in den Schänken, die grob nach ihr griffen, wenn sie merkten, dass unter den weiten Lumpen ein Mädchen steckte. Frieder und Tilo waren spaßig und freundlich, auch wenn sie sie oft neckten. Aber das konnte sie gut erwidern. Und Herr Marian, der war so höflich, auch zu ihr. Oder gar Herr Master John. Das war ein Mann! Der hatte ihr sogar die Sorge um Frau Alyss anvertraut. Und die Gänse. Und alles. Sogar der Magister, der war zwar ein trockener Furz, aber heimlich war er ein ganz weichherziger Mann. So wie der mit dem Kätzchen spielte. Er war sogar ziemlich lustig. Wenn sie ihm freche Antworten gab, dann zwinkerte er meistens und hatte seinen Spaß daran.
Ja, es gab auch nette Männer, und der, der sich an dem Samstagnachmittag zu ihr gesetzt hatte, war auch so einer gewesen. Hatte sie gedacht. Er hatte einen rotbackigen Apfel aus seiner Tasche geholt und ihn ihr angeboten. Erst hatte sie sich geweigert, ihn anzunehmen, aber dann hatte er gemeint: »Ach, der ist nicht vergiftet, Jungfer. Der ist nur die ganze Zeit, seit ich ihn vom Baum gepflückt habe, in meiner Tasche auf und ab gesprungen und hat gesagt, er sucht ein rotbackiges Mädchen, das ihm ähnlich sieht. Nur von der möchte er verspeist werden.«
Das fand sie so komisch, dass sie ihn angenommen und gleich hineingebissen hatte.
Sie hätte wissen müssen, dass die Schlange diesen Apfel gewählt hatte, um sie ins Verderben zu führen.
Aber der Apfel war süß und saftig, und der junge Mann gab launige Bemerkungen über die herumstolzierenden Handelsgehilfen, den feisten Kapitän, die schrillen Fischweiber und die hochmütigen Kaufleute ab, die hier am Hafen zusammentrafen – meist nicht ohne Zwischenfälle. Sie hatten miteinander gelacht, die Sonne schien, und die Enten am
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