Mit falschem Stolz
Ufer balgten sich um die letzten Krümel ihrer Pastete. Anton heiße er, sagte der Junge, und aus den Tintenflecken an seinen Fingern schloss Lore, dass er ähnlich wie Tilo ein Schreiberling war. Natürlich hatte sie mit ihren eigenen Schreibkünsten angegeben, und er hatte von seinem Herrn erzählt, der so krude Vorstellungen davon hatte, wie die Federn angespitzt sein mussten. Er war ein ganz furchtbar Ordentlicher, der immer Wert darauf legte, dass das Tintenfass genau im richtigen Winkel auf dem Pult stand und die Pergamente immer die gleiche Größe haben mussten. Sie erzählte von dem Magister, der zuließ, dass seine Katze ihm die Federn stahl, von den Gänsen bei Frau Alyss, deren Federn sie wiederum dem Magister brachte. Irgendwie hatte er sie dazu verlockt, über das Hauswesen zu sprechen, über die Pflichten, die sie darin übernommen hatte – sie war, während sie das alles erzählte, sehr stolz darauf gewesen, dass sie Teil dieser Gemeinschaft war. Und natürlich hatte sie auch über die Sorgen gesprochen, die der Hausherr Frau Alyss bereitet hatte. Sie selbst hatte ja gesehen, wie böse er sie geschlagen hatte, hatte sein Gebrüll mitbekommen, hatte Frau Alyss’ Leid gespürt, als ihre Brautkrone gestohlen worden war, und dass sie ihn dann des ehelichen Gemachs verwiesen hatte, war ihr natürlich auch nicht verborgen geblieben. Angespornt von Antons Wissbegierde hatte sie mehr und mehr von den Streitigkeiten erzählt und den Arndt van Doorne als einen brutalen Saufaus und selbstsüchtigen Zänker dargestellt, der Frau Alyss das Leben nur schwer machte. Und dann hatte sie auch über Master John gesprochen, der, wenn es keiner bemerkte, Frau Alyss mit solcher Sehnsucht ansah, dass sich einem das Herz im Leibe umdrehte.
Bis zum Vesperläuten hatten sie geschwatzt, dann hatte Anton sich verabschiedet.
Sie hatte ihn danach nicht wieder getroffen, obwohl sie Ausschau nach ihm gehalten hatte.
Aber vorgestern hatte sie ihn gesehen. Wie er zusammen mit dem Schöffen Overstoltz zum Turm gegangen war. Und gestern hatte man Frau Alyss gefangen genommen und sie beschuldigt, den Arndt umgebracht zu haben.
In dem Augenblick war ihr alles klar geworden.
Anton hatte sie ausgefragt.
Und sie, dümmer als jede Gans, hatte ihm bereitwillig alles erzählt, was sie über Frau Alyss und ihren Ehemann wusste.
Ihr war so elend.
Sie wünschte sich nur noch zu sterben.
In ihrem Jammer achtete sie nicht auf die schlurfenden Schritte, die sich ihr näherten. Sie schreckte erst auf, als ein flackerndes Handlicht das schwärenbesetzte Gesicht einer zerlumpten Gestalt aufleuchten ließ.
»Ha!«, krächzte die Kreatur. »Frisches Fleisch!«
Mit einem Kreischen sprang Lore auf und flüchtete tiefer in die Aduchten.
21. Kapitel
M arian hatte eine ungeahnte Energie an den Tag gelegt. Nachdem er seine Mutter unterrichtet und sich um das aufgelöste Hauswesen gekümmert hatte, war er zu Pater Henricus geeilt und hatte ihn um Hilfe gebeten. Erstaunlicherweise hatte der sanftmütige Pater wenig gesagt, doch als er erfuhr, dass der Schöffe Endres Overstoltz die Anklage erhoben hatte, war ein unerwartet kämpferischer Funke in seinen Augen aufgeblitzt.
Anschließend hatte Marian sich wieder zum Haus in der Witschgasse begeben, um die Nacht dort zu verbringen, und am Morgen schon hatte er Leocadie zu den Benasis begleitet, wo sie Ritter Arbo um das Gnaden gesuch bitten – und möglicherweise auch die hochangesehene Familie der Benasis selbst für ein solches Unterfangen gewinnen wollte. Dann hatte er sich mit Magister Jakob getroffen, der ihm in seiner üblich unbewegten Stimme von der Befragung seiner Schwester durch den Schöffen Endres Overstoltz berichtete.
Diese Schilderung munterte Marian merklich auf.
Anschließend war er in sein Heim am Alter Markt zurückgekehrt und gleichzeitig mit zwei staubigen Reitern eingetroffen. John und an dessen Seite Ivo vom Spiegel hielten eben ihre Rösser an. Marian eilte an die Seite seines Vaters, um ihm aus dem Sattel zu helfen, wurde aber rüde zurückgewiesen: »Noch bekomme ich meine morschen Knochen selbst vom Gaul!«
So war es zwar auch, aber dennoch blieb Marian dicht an seiner Seite, und unauffällig stützte der Herr vom Spiegel sich für einen kleinen Augenblick auf ihn. Auch John kam von seinem Pferd, wankte ein wenig und sagte: »Ein toller Ritt, my Lord. Das sind meine Seebeine nicht gewohnt.«
»Gehen wir ins Haus. Ist deine Mutter zugegen, Sohn?«
»Sie ist in der
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