Mit falschem Stolz
sechzehn oder siebzehn Jahre älter als ich und bei einem Adligen eine Art Gehilfe des Verwalters.«
»Endres?«
»So lautete sein Name. Ich erinnere mich an ihn – da mochte ich so fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Seine hellblonden Haare leuchteten in der Sonne wie ein Heiligenschein, und ich fragte meine Mutter danach. Aber die lachte nur und meinte, der Mann sei alles andere als ein Heiliger. Der sei der Bastardsohn eines Patriziers und darauf auch noch eingebildet.«
»Hat deine Mutter oder Mats ihn verärgert?«
»Mats macht sich keine Feinde, Alyss. Aber vielleicht fand Endres ihn abstoßend. Das passiert oft. Und Ronya – ich weiß es nicht. Ich war noch sehr klein, er schon ein Mann. Mag sein, dass sie ihn beleidigt hat. Er war nicht eben freundlich zu seiner Mutter, und als er seinen Besuch beendet hatte, weinte sie. Ronya hatte, wenn sie sich über jemanden ärgerte, eine Art, ihn ihre Verachtung spüren zu lassen, die mitten ins Herz traf. Aber ob sich Endres an mich als Kind erinnert und deshalb seine Wut an mir auslassen will …?«
»Das kann man nicht wissen. Er scheint mir von sehr nachtragendem Charakter zu sein. Catrin hat er eine Schwachsinnige genannt, die die Eltern bei den Beginen einsperren mussten – nur weil sie seinen Heiratsantrag vor zwölf Jahren abgelehnt hat.«
»Bösartig, ehrgeizig, dumm und nachtragend. Eine schlechte Mischung.«
»Und ein Bastard – vermutlich ein Overstoltz. Was, wenn das wirklich stimmt, Gislindis, ein seltsames Licht auf seinen Stand wirft. Um Schöffe zu werden, muss man nämlich ehelicher Geburt und ohne körperlichen Makel sein.«
Gislindis sah von ihrer Hand auf.
»Die Momke war nicht verheiratet. Nein, ich glaube nicht.«
»Vielleicht zur linken Hand?«
Sie zuckte mit der Schulter, und Alyss’ Gedanken rasten. Wenn man dem Overstoltz nachweisen konnte, dass er sich den Schöffenstuhl erschwindelt hatte, ergaben sich ganz neue Möglichkeiten.
»Wer immer von unseren Freunden oder Verwandten zu uns gelassen wird, dem müssen wir, ohne dass die Wachen es bemerken, diese Überlegung mitteilen.«
»Ja, das sollten wir.«
Gislindis’ graue Augen begannen zu schillern.
Sie sah in die Zukunft, schloss Alyss zufrieden daraus.
23. Kapitel
L ore blieb verschwunden, auch am Sonntag hatte niemand eine Spur von ihr gefunden. Magister Jakob, den Marian wieder aufgesucht hatte, sah ganz gegen seine übliche gelassene Art sogar ein wenig beunruhigt aus.
»Das Kind weiß sich zu wehren«, versuchte Marian ihn zu trösten. »Sie kennt die Ecken und Winkel der Stadt gut genug, um sich zu verbergen.«
»Aber warum nur?«
»Vielleicht hat sie Angst, ebenfalls angeklagt zu werden. Oder … Johns Diener Bob ist von einer Magd der Beginen angeklagt worden, heißt es. Möglicherweise war das Lore. Die Pförtnerin sagte, sie habe ein paarmal einem struppigen Bettler etwas zu essen zugesteckt.«
»Lore hat Essen fortgegeben?«
»Sie ist jetzt immer gesättigt, Magister Jakob. Daraus mag sich sogar bei ihr eine gewisse Mildtätigkeit entwickeln. Und Bob bot wirklich einen liederlichen Anblick. Er mochte ihre Angst und ihren Verdacht erregt haben. Als sie dann erfahren hat, dass er zu Master John gehörte, konnte sie befürchten, für ihr Handeln bestraft zu werden. Die Gassenkinder haben eine höllische Angst vor den Wachen und dem Kerker. Vermutlich nicht zu Unrecht.«
»Ich sorge mich. Dammich! Ich sorge mich um das Kind!«
»Wir suchen sie weiter. Ich begebe mich nachher zu Bader Pitter und höre, ob die anderen Päckelchesträger sie irgendwo entdeckt haben. Sie muss Essen und einen Schlafplatz gefunden haben.«
Der Magister nickte und zog einige Pergamente aus der Lade.
»Ich habe Protokolle von Zeugenbefragungen erhalten. Eine Frau Franziska, Wirtin zum Adler, hat Eure Schwester schwer belastet.«
»Was?«
»Sie behauptet, Frau Alyss habe den Weinhandel ihres Gemahls herrschsüchtig an sich gerissen, sei in undurchsichtige Wechselgeschäfte mit den Friesen aus dem Wik verwickelt und würde mit ihrem Wein den Turmvogt bestechen. Außerdem habe sie ihre Tochter Stina ins Unglück gestürzt und behauptet, sie habe sich Liebestränke von einer Zauberschen besorgt.«
»Herrgott, was für eine kleine Giftkröte!«
»Ein Schreiber namens Hermanus hat ebenfalls bezeugt, dass Frau Alyss ein außerordentlich herrschsüchtiges Weib sei, nur daran interessiert, möglichst große Gewinne zu machen und den Armen die Almosen vorzuenthalten. Außerdem
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