Mit falschem Stolz
Fredegar. »Und ich bin bereit, mich morgen auf die Knie zu begeben, um für deine Schwester zu bitten.«
»Und ich werde neben Euch knien, Sir Fredegar.«
Und ich würde gerne für Gislindis knien, dachte Marian. Aber er schwieg.
27. Kapitel
W enn man auf den Schemel stieg, konnte man aus der schmalen Luke nach draußen schauen, hatte Alyss herausgefunden. Nicht die belebten Straßen der Stadt sah man hier, sondern man blickte über die Felder und Gehölze vor der Mauer. Sie lagen im Morgennebel, und die kühle Luft ließ sie frösteln. Etwas enger zog sie das Wolltuch um ihre Schultern.
Es war ein nebeliger Morgen, der in einen spätherbstlichen Sonnentag übergehen würde. Ein Tag wie gemacht, die Reben zu schneiden, die Stangen aus dem Boden zu ziehen, die Wurzeln abzudecken. Vorbereitungen für den Winter zu treffen war wichtig, denn im November konnten die ersten Fröste die Nächte erstarren lassen.
Der Most gärte in den Fässern – man musste Proben nehmen. Die Beete im Gemüsegarten mussten umgegraben werden, die Zwiebeln gesteckt, der neue Wein aus der Pfalz geordert, die Frage nach dem Rotwein aus Burgund gelöst werden …
Es gab so viel zu tun.
Und sie saß hier, in einem Raum eingeschlossen, kaum vier Schritte lang und vier Schritte breit. Sie wollte ausschreiten, weit und mit schwingenden Röcken, Benefiz an ihre Seite, Jerkin auf der Hand. Sie wollte den Falken abwerfen und seinen Flug in die Freiheit beobachten. Sie wollte den Wind in den Haaren spüren und den Lehm unter ihren Füßen. Sie wollte die Jungfern schwatzen und kichern, den furcht- und fruchtbaren Hahn Herold seinen Kampfruf schmettern, Lore mit den heidnischen Gänsevölkern zanken hören.
Sie wollte vor allem hier raus!
Erschöpft von der Anstrengung, die es sie kostete, nicht mit den bloßen Händen die Wände zu zerkratzen – andere vor ihr hatten derartige Spuren im Mörtel schon hinterlassen –, erschöpft von den Gedanken, was alles besser sein könnte, als unschuldig im Turm eingesperrt zu sein, lehnte sie den Kopf an die kühle Mauer. Sicher, es war besser, hier oben in dem Gelass als in einer der feuchten, lichtlosen Kerkerzellen untergebracht zu sein. Sie bekamen zu essen, nicht einmal schlecht, hatten eine Kohlenpfanne, um sich zu wärmen, Decken und Polster, um bequem zu schlafen. Und sie konnte sich glücklich schätzen, eine Kameradin wie Gislindis bei sich zu haben. Ein Frau, die klug, manchmal sogar weise war, die ihr Schicksal nur selten beklagte, die selbst den widrigen Umständen noch dann und wann eine heitere Seite abringen konnte.
Und, ja, sie hatte Freunde, die alles daransetzten, sie aus der Gefangenschaft freizubekommen.
Dennoch – es zermürbte sie.
Es zermürbte sie, nicht zu wissen, ob sie Erfolg haben würden. Sie hatte es mit Willkür, Dummheit und Hass zu tun, und sie wusste gut genug, dass diese Eigenschaften andere Leute beeindrucken konnten. Endres Overstoltz hatte seine Leidenschaft darein gelegt, sie, Gislindis und Mats des Mordes zu überführen. Er würde genügend Leute auf seine Seite ziehen, nicht weil sie Beweise hätten, sondern weil sie schlichtweg Freude daran hatten, jemanden wie sie fallen zu sehen. Für allzu viele war sie tatsächlich schuld an Arndt van Doornes Tod – selbst wenn sie nicht selbst das Messer geführt hatte. Sie war ihm keine gehorsame Ehefrau gewesen. Sie hatte sich über seine Macht im Haus hinweggesetzt. Jene, die diesen Mut ihren gewalttätigen, untreuen und verlogenen Männern gegenüber nicht hatten, würden zu gerne sehen, wie sie verurteilt wurde. Und jene gewalttätigen, untreuen und verlogenen Männer, die fürchteten, dass sie ihren Frauen Vorbild sein könnte, gleichfalls.
Heute war die nächste Gerichtssitzung.
Würde die Schadenfreude oder die Gerechtigkeit siegen?
Es war unerträglich, die Ungewissheit. Würde man ihre Unschuld nicht anerkennen, drohten ihr weitere Befragungen, die irgendwann auch Magister Jakob nicht würde verhindern können. Vor allem aber drohten ihr Tage, Wochen, vielleicht Monate in dieser engen Zelle.
Sie würde so gerne ein Bad nehmen.
Sich die Haare waschen.
Einen frisch gewaschenen Kittel anziehen.
Mit John spitzige Wortwechsel führen …
Ihre Hände krallten sich in den Sims am Fenster.
Ein Flattern, ein leises »Zipzipzip«.
Mit glänzenden Augen sah ein braunes Vögelchen sie an.
Die unsagbare Schwermut verflog, und Alyss kehrte in die Gegenwart zurück.
»Vögelchen, bringst du Kunde?«
Ganz
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