Mit falschem Stolz
vorsichtig streckte sie ihre Hand aus.
»Zipzipzip!«
»Vögelchen, bringst du Hoffnung?«
Der Fink flatterte auf, flog ein Stückchen fort, kam aber wieder zurück. Alyss kletterte vom Schemel und nahm ein paar Brotkrumen, die noch in dem Korb lagen, und streute sie auf den Sims. Zwar flog der Vogel wieder fort, kam aber umgehend zurück und beäugte neugierig die Gabe.
»Nimm, Kleiner. So viel habe ich zum Teilen.«
Er pickte zierlich ein Krümelchen auf und sah sie wieder an. Dann pickte er weiter, bis alle Brosamen verschwunden waren.
Und während Alyss ihn beobachtete, tauchte in ihrer Erinnerung eine Geschichte auf, die ihre Mutter ihr als Kind erzählt hatte. Bevor der Herr vom Spiegel die Kutte der Benediktiner abgelegt hatte, war er, verfolgt von den Schatten seiner Vergangenheit, an den Rand der Verzweiflung getrieben worden und hatte sich zur Buße für seine Schuld lebendig einmauern lassen. Er hatte lediglich trockenes Brot und Wasser durch eine schmale Öffnung seiner Klause erhalten. Da er aber zu sterben wünschte, hatte er das Brot den Vögeln ausgestreut. Eine Nachtigall hatte sich nächtens bei ihm eingefunden und versucht, ihn mit ihrem Gesang zu trösten.
Eingemauert.
Heilige Mutter Maria, er hatte sich einmauern lassen.
Was das bedeutete, wurde Alyss jetzt erst wirklich bewusst, da sie ihrer Freiheit beraubt war.
Warum hatte er das getan? Ihr Vater war ihr immer als ein Mann von unbeugsamer Stärke und lauterstem Charakter erschienen. Sich selbst eine solche Strafe aufzuerlegen, das musste bedeutet haben, dass er eine Schuld auf sich genommen hatte, die in seinen Augen nur der Tod sühnen konnte. Ein qualvoller, einsamer Tod.
Er war gerettet worden durch ihre Mutter, die graue Begine, und einige gute Freunde. Mehr aber durch die Erkenntnis, dass Liebe und Freundschaft über Pflicht und Selbstzucht standen. Härte gegen sich selbst konnte bis zur Vernichtung gehen.
Sie war ihm sehr ähnlich, das sagten viele, die sie kannten, sinnierte Alyss. Und in gewisser Weise mochte das stimmen. Auch sie hielt ihr Leben selbst in der Hand. Vor allem, als sie bemerkt hatte, dass Arndt ihr in keinem Fall eine Stütze war, hatte ihr diese Fähigkeit, diese unbedingte Hartnäckigkeit geholfen, sich von seinen unredlichen Machenschaften zu lösen und das Hauswesen mit Anstand zu führen.
Und dennoch: Hätte sie weniger selbstsüchtig alles an sich gerissen – wäre Arndt dann der Stadt verwiesen worden? Wäre er zurückgekehrt, um ermordet zu werden?
Nein, wies sie sich rigoros an. Nein, ein Mann mit seiner verbrecherischen Gesinnung wäre ohnehin zu Fall gekommen.
Der Buchfink zwitscherte noch einmal fröhlich auf und flatterte dann fort.
Alyss stieg vom Schemel und sah sich zu Gislindis um. Sie lag genau so, wie sie sie verlassen hatte, als sie aufgewacht war. Doch sie schlief nicht mehr. Sie starrte mit blicklosen Augen an die Wand, die Hände in die Decke verkrallt.
Auch sie litt, weit mehr als sie selbst, dachte Alyss. Auch sie war eine Frau, die es gewohnt war, die Fäden in der Hand zu halten.
Mitgefühl überschwemmte sie, und sie kniete neben ihr auf den Strohsack.
»Grüble nicht, Gislindis. Ich habe gemerkt, dass es alles noch schlimmer macht, wenn man sich vorstellt, was man alles nicht tun kann.«
Gislindis bewegte sich nicht.
»Ich weiß, Hoffen und Bangen sind eine furchtbare Folter. Ungewissheit und Hilflosigkeit lähmen uns beide, dich genauso wie mich.« Sie nahm die kalten Hände ihrer Freundin in die ihren, kaum weniger seelisch erschöpft als sie. »Ich weiß, wir müssen vertrauen …«
»Wem soll ich denn vertrauen, Alyss?« Abgrundtiefes Elend lag in den dunkel umrandeten Augen. »Ich kann nicht beten, wie dieser Pater es sagt. Ich kann mein Schicksal nicht in Gottes Hände legen. Ich finde keinen Trost darin.«
»Nicht in Gottes Hände ist unser Schicksal gelegt, Gislindis, sondern in das unserer Freunde.«
»Deiner Freunde, die meinen haben keinen Einfluss. Krämerinnen, Handwerker, Marktweiber – sie können nichts bewirken.«
»Du willst es nicht anerkennen, dass meine Familie dir Freund ist, Gislindis.«
»Sie zahlen meine Kerkermiete, und dafür danke ich ihnen. Aber für dich gibt es einen Advokaten und Männer mit Einfluss.«
»Warum machst du dich so klein, Gislindis?« Alyss seufzte. Es musste wohl doch zur Sprache kommen. Bisher hatte sie es vermieden, über Marian zu sprechen, obwohl sie viele Stunden mit Reden verbracht hatten. »Mein Bruder,
Weitere Kostenlose Bücher