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Mit falschem Stolz

Mit falschem Stolz

Titel: Mit falschem Stolz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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mit dem Werner von der Rheingasse sprechen. Es bedrückt mich unsäglich, annehmen zu müssen, dass einer meiner Blutsverwandten einen solchen Verrat begangen haben könnte.«
    »Ja, Pater Henricus, das verstehe ich. Der Herr Werner führt sicher das Familienbuch, nicht wahr? Ihr könntet ihn bitten, Einsicht nehmen zu dürfen.«
    »Das Buch führt er, doch die Urkunden liegen im Altar von Sankt Katharinen«, murmelte Pater Henricus. »Wir zahlen dem Altarist von St. Maria Sion dafür, dass er den Altardienst vollzieht. Er hat den zweiten Schlüssel zu den Truhen.«
    Pater Henricus versank wieder in Gedanken. Irgendwann murmelte er: »Kaum möglich, kaum möglich. Nur beide zusammen können den Schrein öffnen.«
    »Was meint Ihr, Pater Henricus?«
    »Oh, nichts, nichts. Ich habe nur laut gedacht.«
    »Verzeiht, dass ich Eure Gedanken störte. Doch ich will Euch noch eine freudige Nachricht überbringen.«
    Während sie von Robert van Doornes wunderbarer Wiederkehr sprach – die bereinigte Fassung, auf die sie sich geeinigt hatten –, dachte sie zufrieden, dass der Keimling, den sie gelegt hatte, sprießen würde, dass der Overstoltz von der Rheingasse weit weniger bedrückt als vermutlich fuchsteufelswild werden würde, wenn Pater Henricus dem Patron der Familie seinen Verdacht vortrug. Allerdings würde sie in wenigen Tagen nachfragen, ob er den Werner von der Rheingasse gesprochen hatte. Man musste den guten Pater immer ein wenig anschieben.
    Vom Kloster der Franziskaner aus war es nicht weit zur Dombaustelle, und auch Alyss begegnete dem Frachtkarren mit den bärtigen Propheten. Auch sie musste sich durch das Gedränge in den Gassen und den Märkten begeben, doch anders als ihr Bruder ergötzte sie sich nicht an den fremdländischen Aromen, sondern begutachtete in feines Leder gebundene Bücher aus Papier, erstand dann einen Kegel aus weißem Zucker und ein Bündel getrockneter Feigen. Mit einigen Bekannten hielt sie kurze Schwätzchen, nahm drei Bestellungen für Wein mit und kehrte in guter Stimmung in die Witschgasse zurück.
    »Iahhhh!«, dröhnte es ihr entgegen. »Iahhh!«
    »Halt die Schnüss!«, keifte es dagegen.
    Alyss musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut herauszulachen. Lore wippte auf den Füßen auf und ab, fluchtbereit und sichtlich auf das Äußerste empört. In der Hand hielt sie einen geviertelten Apfel. Leocadie, Tilo und Frieder standen hinter ihr, Hedwigis und Lauryn hielten die Gänse in Schach. Der kleine Esel schien ebenso empört wie Lore und sichtlich willens, ihr die Leckerei zu entreißen. Als Alyss jedoch näher trat und den bejammernswerten Zustand des Esels erkannte, erstarb ihr Lachen. Sie ergriff wortlos die Apfelviertel aus Lores Hand und reichte eines mit einigen gemurmelten Worten dem Tier. Das rollte wieder vor Angst mit den Augen und zitterte.
    Alyss legte den Apfel auf den Boden und reichte Tilo ihre Einkäufe weiter.
    »Bring das in die Küche. Und alle halten jetzt Abstand. Wer hat das Tier hergebracht?«
    »Der Herr Master John, Frau Herrin, der hat gesagt, Ihr hätt’ das Beest geerbt. Er sagt, das heißt Jennet.«
    Einen Wimpernschlag lang dauerte es, dann hatte Alyss verstanden – die Eselin. Es hatte da wohl ein Tauschgeschäft stattgefunden.
    »Jennet heißt Eselin in Master Johns Zunge«, erklärte Frieder und trat ein wenig näher. »Die hat man nicht gut behandelt. Sie hat Angst.«
    »Ich weiß.«
    Alyss blieb vor dem zitternden Eselchen stehen und sammelte sich. Auch sie besaß eine Gabe. Sie fühlte mit den Tieren, und hier lag großes Elend vor ihren Augen. Leise summte sie ein paar Töne und senkte die Lider, um nicht bedrohlich zu wirken. Ein Tritt würde ziemlich wehtun, und harte Zähne hatte ein Esel auch. Dennoch wagte sie sich langsam, sehr langsam näher. »Es ist gut, Jennet. Hier bekommst du Futter und keine Schläge. Du kriegst einen Stall und Stroh, und ich werde die Wunden auf deinem Rücken salben. Ruhig, Kleine. Hier findest du Frieden.« Bedachtsam hob sie die Hand und legte sie der Eselin auf die Stirn. Sie hörte Lore quietschen, doch nichts geschah. Alyss schloss die Augen und versetzte sich in die Seele des Tieres. Schmerz, Hunger, Verlassenheit, Müdigkeit, Furcht. So viel Furcht vor Schmerzen, so viel Angst vor dem Verhungern.
    Es tat ihr weh, aber es war auch gut so, dass ein Teil des Leids von Jennet genommen wurde. Benefiz schmiegte sich an ihre Beine und gab kleine fiepsende Laute von sich. Auch ihm hatte Alyss einst

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