Mit Freuden begraben – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
die Reste eines Filters aus den Tiefen der Pfeife, durchsuchte seine Taschen auf der Suche nach einem neuen und sagte:
»Vor zwei Wochen – am Nachmittag des 28. August, um genau zu sein – wurde eine Frau ganz in der Nähe von Sanford Morvel vergiftet. Sie war mit einem Engländer verheiratet, einem Rechtsanwalt namens Lambert, doch sie selbst war Französin – halb Französin, halb Russin, um genau zu sein. Ihr Vater, Angehöriger der bourgeoisie , verließ Russland vernünftigerweise während der Herrschaft der Menschewiki. Ihre Mutter war Balletttänzerin.
Ich muss mich nicht länger mit ihnen aufhalten, da sie nichts mit dem Fall zu tun haben. Tatsache ist, dass beide starben, als ihre Tochter – Andrée – erst fünfzehn Jahre alt war. Sie vermachten ihr nichts, mit dem Ergebnis, dass sie sich als Prostituierte durchschlug. Ich will damit nicht sagen« – Bussy gestikulierte verstört – »dass sie sich freiwillig für diesen unangenehmen Beruf entschied. Vielleicht war es so – es war mir nicht möglich, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen –, aber nach dem, was ich über ihre Charaktereigenschaften hörte, erscheint es mir weitaus wahrscheinlicher, dass sie dazu gezwungen wurde. Es gibt für ein hübsches, bettelarmes Mädchen rive gauche jede Menge Möglichkeiten, in so etwas hineinzurutschen, wie du dir zweifelsohne vorstellen kannst.«
Fen, der sein Frühstück beendet hatte, stimmte dieser Einschätzung seines weltlichen Denkvermögens mit einer Art Grunzen zu. Er war bestrebt, Bussy dahingehend zu ermuntern, so viel wie möglich unerwähnt zu lassen, da nämlich die Insekten aus der Nachbarschaft, trunken vor lauter Sonnenlicht, in immer größeren Scharen ins Zimmer drangen und jedem, der unbedacht genug war, längere Zeit still zu sitzen, erhebliche Unannehmlichkeiten versprachen. Schmeißfliegen ließen sich auf Fens Handrücken nieder; eine Wespe hing mit unpersönlicher Entschlossenheit vor seinem Ohr; Mückenschwärme, stellenweise so dicht, dass man sie für Ektoplasma halten konnte, führten eine Art Hexentanz um seinen Kopf auf. Er blies Zigarettenrauch hinein, was den Mücken zu gefallen schien, und grunzte wieder, diesmal mit noch mehr Nachdruck.
»Jedenfalls ist klar«, sagte Bussy, »dass sie diesen Lebenswandel aufgeben wollte, sobald sie die Gelegenheit dazu bekäme. Denn irgendwie schaffte sie es, Geld für eine Sekretärinnenausbildung zu sparen. Und schließlich, mit neunzehn, bekam sie bei einer Firma in der Avenue Mozart eine Anstellung, bei Demur et Cie, die Sekretärinnen in Zeitarbeit und für Einzelaufträge vermittelt. Eine Spezialität dieser Firma ist es, oder war es zumindest, einigen Mädchen Englischunterricht zu geben, damit sie von englischen Geschäftsreisenden gebucht werden können. Das ist gut bezahlte Arbeit, und Andrée ließ sich darauf ein. So lernte sie Lambert kennen.«
Bussy begann, seine Pfeife wieder zusammenzusetzen. »Selbstverständlich ist Lambert kein Geschäftsmann«, sprach er nach einer kurzen Pause, in der er mit der Pfeife hantierte, weiter. »Er ist Rechtsanwalt, wie ich schon sagte. Er ist vermögend und praktiziert deswegen nicht mehr. Tatsächlich war er von jeher so etwas wie eine akademische Autorität, nicht unbedingt praktizierender Anwalt. Hast du schon einmal von Lambert über Gesellschaftsrecht gehört?«
»Entfernt«, sagte Fen.
»Um den geht es. Jedenfalls reiste er nach Paris, um viele andere Experten für Gesellschaftsrecht zu treffen. Das wird kein Honigschlecken gewesen sein« – unangenehm berührt rutschte Bussy auf seinem Stuhl hin und her, als das Bild dieses seltsamen beruflichen Gelages vor seinem geistigen Auge aufzog – »aber wer weiß, ihm wird es gefallen haben. Jedenfalls ergab es sich, dass er für die Dauer seines Aufenthaltes eine Sekretärin brauchte. Demur hat ihm dann Andrée geschickt. Und daraus ergab sich, dass er sie mit nach England nahm und heiratete.«
An dieser Stelle hielt Bussy für längere Zeit inne, um in Gedanken die Wechselfälle des Liebeslebens in eine einigermaßen nachvollziehbare Reihenfolge zu bringen. Fen, der erriet, woran Bussy dachte, und der an einer Schilderung der psychologischen Hintergründe der Verbindung kein Interesse hatte, nutzte die Gelegenheit, um zu sagen:
»Ja, das verstehe ich. So etwas passiert öfter, als man denkt.«
»Nur, dass es in diesem Fall besonders überraschend war.« Bussy ließ sich von Fens eiliger Zustimmung nicht beirren. »Du würdest es
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