Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
schreie entsetzt auf, als ich eine fremde Gestalt in meinem Schlafzimmer erkenne.
»Wieso soll ich Ihren Fisch füttern, wenn Sie zu Hause sind?«, fragt Herr Lorenz mich vorwurfsvoll, während ich mit auf das Herz gepresster Hand aufrecht im Bett sitze. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er auf der Suche nach Fischfutter ist oder welche Erklärung er sonst für den Rundgang durch meine Wohnung hat. Stattdessen murmele ich etwas von geänderten Plänen und bedanke mich herzlich für seine Hilfe, während ich ihn zur Tür begleite. Ratlos bleibe ich dann mitten im Flur stehen. Ein langer Tag liegt vor mir, den ich irgendwie auszufüllen habe. Aber wie? Soll ich vielleicht den ganzen Tag über Tristan füttern? Das arme Tier wird spätestens Ende der Woche an Überfettung eingegangen sein. Ich durchsuche mein Adressbuch nach irgendwelchen Freunden, mit denen ich mich endlich mal wieder treffen könnte, aber dabei wird mir mit Schrecken bewusst, dass all die Nummern irgendwelchen Geschäftsbeziehungen gehören, denen ich in meinem jetzigen Zustand kaum unter die Augen treten kann. Einige der Namen im Telefon kann ich nicht einmal mehr zuordnen. Schließlich rufe ich Chrissy an.
»Hallo?«
»Störe ich? Sind die Kinder krank? Oder schlafen sie? Oder esst ihr gerade?«, rassele ich herunter, um jede Eventualität eines möglicherweise unpassenden Zeitpunkts abzuklappern.
»Nein, alles okay. Wie geht es dir?«, erkundigt sich meine Schwester, während im Hintergrund zufrieden gurgelnde Geräusche zu hören sind.
»Ach, gar nicht gut«, seufze ich, und dann erzähle ich ihr die ganze Geschichte. Als ich geendet habe, herrscht erst mal Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Ein Nervenzusammenbruch, Vivi, das ist ja furchtbar«, meint Chrissy, als sie die Sprache wiedergefunden hat.
»Das war halb so schlimm, ehrlich«, beteuere ich, denn anscheinend hat sie mein echtes Problem gar nicht begriffen. »Aber ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich Huber davon überzeugen kann, dass ich trotz allem sein bestes Pferd im Stall bin.«
»Du solltest diesen Job aufgeben, Vivi.« Ist die noch ganz bei Trost? Meine Arbeit ist alles, was ich noch habe auf der Welt. »Das ist ein ernstzunehmender Warnschuss deines Körpers, den du nicht auf die leichte Schulter nehmen solltest«, fährt sie fort, während im Hintergrund jemand losbrüllt.
»Ist das Klara?«
»Du, ich muss aufhören. Versuch, die nächsten sechs Wochen für dich zu nutzen, okay? Entspann dich und frag dich, was du aus deinem Leben machen willst.« Aber das weiß ich doch, das wusste ich schon mit vierzehn. Ich will Unternehmensberaterin sein. »Und vielleicht kannst du ja auch die Sache mit Simon wieder geradebiegen«, schlägt sie vor. Als ob das so einfach wäre.
»Der will doch nichts mehr mit mir zu tun haben«, gebe ich düster zurück. Das Geschrei wird lauter, und Chrissy wirkt jetzt merklich abgelenkt:
»Das glaube ich nicht«, meint sie zerstreut, »du solltest ihn einfach mal anrufen.« Nee, ist klar. »Ich muss wirklich auflegen. Genieß die Zeit. Eigentlich beneide ich dich fast ein bisschen. Sechs Wochen Nichtstun, das wäre zu schön. Und gerade so kurz vor Weihnachten. Also, tschüssi!«
Kapitel 8
Nichtstun vor Weihnachten ist schrecklich. Es wird schon nachmittags dunkel, und wenn es so kalt und ungemütlich ist, wünscht man sich nichts mehr als jemanden, mit dem man sich gemütlich auf die Couch kuscheln kann. So jemanden habe ich aber nicht. Also sitze ich alleine auf meinem Sofa, und weil mir beim Aufräumen meine alten Stricknadeln und ein paar Wollreste in die Finger gekommen sind, beginne ich zu stricken. Ich stricke und stricke. Ich fertige für meine sämtlichen Familienmitglieder zu Weihnachten Mützen, Schals, Pulswärmer und Socken in den kompliziertesten Mustern, weil das Maschenzählen mich daran hindert, über mein verkorkstes Leben nachzudenken. Dann kaufe ich ein Buch mit dem Titel: »Geschenke kreativ verpacken« und reise schließlich an Heiligmorgen mit einem riesigen Koffer voller Pakete in Stuttgart an. Ein Paar braunbeige gestreifter Ringelsocken in Größe 46 bleibt einsam und allein auf dem Küchentisch zurück. Ich habe keine Ahnung, warum ich für Simon überhaupt ein Geschenk gemacht habe. Seitdem er seine Skier abgeholt hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich weiß ja nicht mal, wo er jetzt wohnt. Und ehrlich gesagt habe ich auch gar nicht vor, ihm die Socken jemals zu geben. Irgendwie war es einfach ein
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