Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
gutes Gefühl, sie zu stricken.
Auf dem kurzen Weg vom Bahnhof zu meinen Eltern hole ich mir nasse Füße. Der Schnee, der die letzten Tage gefallen ist, fällt dem Hoch aus Richtung Süden zum Opfer. Statt eines romantischen Puderzuckerüberzugs versinken die Straßen in grauem Matsch.
»Kind, schön, dass du da bist«, werde ich von meiner Mutter begrüßt, die in ihrer blütenweißen Schürze in der ebenso blütenweiß gestrichenen Haustür meines Elternhauses steht und mich an ihren mächtigen Busen drückt. Ein Attribut, das ich nicht von ihr geerbt habe. Ebenso wenig wie die blond gelockten Haare und die zierliche Körpergröße. Aber die hellgrünen Augen, die mich gleich darauf kritisch von oben bis unten mustern, sind Beweis genug für unsere genetische Verbindung. »Warum siehst du denn noch immer so dünn und abgespannt aus? Das wird noch mal ein schlimmes Ende mit dir nehmen«, orakelt sie düster, und ich bin froh, dass jetzt mein Vater hinter ihr erscheint, groß und schlank und dunkelhaarig, so wie ich. Er umarmt mich und nimmt mir mein Gepäck ab.
»Wie lange willst du denn bleiben?«, fragt er mit einem Blick auf die beiden riesigen Koffer, die ich angeschleppt habe.
»Nur ein paar Tage«, winke ich ab, »das meiste sind Geschenke.«
»Tatsächlich?« Meine Mutter zieht bass erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. »Und ich habe mich schon gewundert, dass noch nicht Dutzende Päckchen von Amazon angekommen sind.« Beleidigt öffne ich den Mund, um mich zu verteidigen, schließe ihn aber dann doch wieder. Sie hat ja Recht. Seit ich bei Wisenberg angefangen habe, bestand mein Weihnachtsshopping aus einer hektischen Stunde Rumsurfen im Internet am 22. Dezember, das immer damit endete, dass sämtliche Familienmitglieder Bücher, DVDs oder technische Geräte von der Amazon-Bestsellerliste zugesandt bekamen. Per Overnight-Express, sehr praktisch. Für sagenhafte zwei Euro und sechzig Cent wurde das Ganze sogar in Geschenkpapier eingewickelt, und einen kleinen Gruß konnte ich ebenfalls hinzufügen. »Fröhliche Weihnachten wünscht Vivi.« Und so konnte ich mit meinem Bordcase direkt vom Büro in den Flieger nach Stuttgart steigen, um meine Familie mit meiner Anwesenheit zu beehren. Ich fand das Konzept genial, aber irgendwie konnten meine Eltern meine Begeisterung nie teilen.
Nachdem die Weihnachtsgans verzehrt ist, sitzen wir alle, Mama, Papa, Chrissy, Daniel, Anna, Klara und ich, auf der hellen Ledergarnitur, die Kerzen am Weihnachtsbaum tauchen das Wohnzimmer in feierliches Licht, es riecht nach Spekulatius und Tanne, und meine Mutter hält gerade fassungslos mein Weihnachtsgeschenk in den Händen. Ihr stehen jetzt schon Tränen in den Augen, obwohl sie es noch nicht einmal ausgepackt hat.
»Ist das wunderschön«, haucht sie und betrachtet ehrfürchtig das Paket aus weißem Seidenpapier, auf das ich Dutzende von roten Pappherzen geklebt habe. Ein wahres Schleifenkunstwerk aus Tüll und rotem Satinband ziert die linke Ecke.
»Wo hast du das denn einpacken lassen?«, erkundigt sich Chrissy, und ich schlage bescheiden die Augen nieder.
»Das habe ich selbst gemacht«, sage ich mit verhaltenem Stolz.
»Ist nicht möglich«, kommt es fassungslos zurück, und meine Mutter sieht aus, als würde sie gleich losheulen.
»Ich kann dir zeigen, wie das geht«, biete ich Chrissy an, doch sie winkt lachend ab:
»Na klar, aber bitte erst, wenn die Zwillinge in den Kindergarten gehen. Oder in die Schule.«
»Oder an die Uni«, ergänzt Daniel, der gerade versucht, Klara davon abzuhalten, sämtliche Weingläser vom Tisch zu fegen, wogegen diese lautstark schreiend protestiert.
»Nun mach schon auf, das Beste kommt doch noch«, drängele ich meine Mutter, und sie sieht plötzlich aus, als hielte sie eine tickende Zeitbombe in den Händen.
Vorsichtig beginnt sie, die Tesafilmstreifen abzuknibbeln, während mein Vater vor lauter Aufregung auf dem Sofa hin- und herrutscht.
»Rita«, sagt er vorwurfsvoll, aber meine Mutter lässt sich nicht beirren. Nach einer halben Ewigkeit hält sie endlich den flauschigen Schal aus weißer Angorawolle in der Hand, den ich für sie gestrickt habe.
»Wie schön«, sagt sie ehrfürchtig und streicht über das edle Teil.
»Habe ich selbst gestrickt«, füge ich hinzu, falls in meiner Familie noch irgendjemand zu denken wagen sollte, dass ich lieblos gekauften Kram verschenke. »Und hast du die passenden Pulswärmer gesehen?«
Ohne Frage bin ich der Star des
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