Mit Haut und Haaren
Juraprofessor in Leiden. Sie sagt, dass es da vielleicht
eine Möglichkeit für dich gibt.«
»Leiden hat keinen Fachbereich Wirtschaftswissenschaften.«
»Das nicht, aber die juristische Fakultät hat eine Abteilung für Fiskal-
und Finanzwissenschaften, und sie suchen eine Schwangerschaftsvertretung.«
»Ich mache keine Schwangerschaftsvertretung!
Lass uns einfach öfter telefonieren. Vielleicht ist das
die Lösung. Man kann die Kinder auch fernmündlich erziehen. – Das geht mir einfach
gegen den Strich: Zurück in die Niederlande, das wäre gleichbedeutend mit einer
Niederlage! Alte Leute, die’s nicht mehr bis in die Kirche schaffen, können den Gottesdienst doch auch am Telefon mitverfolgen,
warum soll das bei Kindern nicht auch irgendwie gehen?«
Er nimmt sein Handy und sieht, dass Lea ihm eine SMS geschickt hat.
»Sie bittet mich, es für alle Beteiligten so einfach wie möglich zu machen«,
sagt Roland.
»Wer?«
»Lea.«
Er streichelt seinem Sohn über den Kopf. »Wir werden Leas Mann beruhigen,
das ist unsere Pflicht, das machen [371] wir jetzt, alle
drei. Wir werden ihn beruhigen, abgemacht, Jonathan? Du wirst uns doch helfen?«
In seiner Hosentasche vibriert das Handy.
»Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist«, flüstert
Sylvie, »aber wir haben Probleme, ich will jetzt nicht davon anfangen, kleine Mäuschen
haben große Ohren, aber ich sag das nicht bloß zum Spaß, Roland. Dein Forschungsprojekt
wird zur Abwechslung mal ein bisschen warten müssen.«
Violet hat ihm eine SMS geschickt.
»Bist du nicht eifersüchtig, wenn ich mit anderen Männern ins Bett gehe?«,
fragt sie.
Roland starrt auf sein Handy. Der Verkehr stockt, es geht weder vor noch
zurück. Er hat eine Untersuchung gelesen, wonach die Durchschnittsgeschwindigkeit
der Autos in New York in den letzten fünfzig Jahren stetig abgenommen hat. Sein
Sohn sagt etwas, doch er hört ihm nicht zu.
»Wie viele sind es genau?«, simst er zurück.
»Einer«, lautet die schnelle Antwort.
»Ja, sehr eifersüchtig«, tippt er zurück, und unterdessen hat er das
Gefühl, ja geradezu die Offenbarung, dass dem wirklich
so ist. Es ist wahr – seine Wahrheit.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragt Sylvie. »Ich sagte, ich kenne vielleicht
jemanden, der in Leiden was für dich tun kann. Ein Semester pro Jahr.«
Violet antwortet.
»Willst du mich nicht bestrafen für das, was ich dir antue?«, fragt sie.
»Natürlich«, schreibt Roland zurück. »Dafür musst du bestraft werden. Kuss.«
Er stellt das Handy aus.
[372] »So«, sagt er und knuddelt seinen Sohn. »Jetzt konzentrieren wir uns
auf Leas Mann. Jonathan, denk daran: Wir wohnen noch alle zusammen!«
»Hätten wir ihn nicht besser im Hotel bei einem Babysitter gelassen?«,
fragt Sylvie.
»Nein, Lea fand es eine schöne Idee, wenn auch die Kinder sich kennenlernen.
Sie wollte eine richtige Familie. – Heute Abend sind wir eine glückliche Familie,
kannst du dir das merken, Jonathan?«
Jonathan nickt.
»Schön, dass wir das wieder mal sein können«, sagt Sylvie.
»Durch unsere bloße Anwesenheit«, fährt Roland fort, »werden wir dem
Bezirksbürgermeister sagen: Wir sind keine Bedrohung für Ihre Ehe. Und das stimmt.
Ich hab keine Zeit, eine Bedrohung für seine Ehe zu sein. Wenn etwas sich bedroht
fühlen muss, dann meine Forschung.«
»Ist das nicht pervers«, fragt Sylvie, »auch Jonathan in dieses Spiel
hineinzuziehen?«
»Das härtet ihn ab. Er muss spielen lernen.«
»Papa, was ist ›beruhigen‹?«, fragt Jonathan.
»Eine Art Trost«, antwortet Roland. »Die Leute können wählen zwischen
Wahrheit und Trost, manche entscheiden sich lieber für Trost. Diese Leute haben
auch Rechte.«
[373] 3
Seit geschlagenen zehn Minuten versucht Mevrouw Oberstein,
ihren Sohn zu erreichen, doch es gelingt ihr nicht. Sie hat einen Wasserschaden
im Bad und will mit ihm besprechen, was zu tun ist. Als alles nichts nutzt, ruft sie ihre Schwiegertochter an, die seit einer Weile nicht
mehr ihre Schwiegertochter ist. Sie hat sich nie mit ihr verstanden, war gegen die
Heirat gewesen, doch die Scheidung fand sie auch keine gute Idee. Wenn man einmal
mit dem Falschen verheiratet ist, muss man es auch bleiben. So hat sie’s selbst
auch gehalten.
Bei seinem letzten Besuch ist ihr Enkel auf dem Sofa herumgehüpft und hat es ruiniert. Sie hatte sofort zum Hörer gegriffen, ihre Schwiegertochter angerufen, die damals schon nicht
mehr ihre Schwiegertochter war, und zu ihr gesagt:
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