Mit Haut und Haaren
Sohn ohnehin bald zu
Besuch komme und er sie bestimmt [364] überreden könne, ihn zu begleiten, und dass
er seinen Sohn dann vielleicht auch mitbringen würde.
»Das ist noch besser«, hatte Lea gemeint, »dann kann er gleich meine
Kinder kennenlernen. Die werden sich freuen. Mit anderen Kindern sind sie ganz unkompliziert.«
Jetzt steht sie in der Küche. Als Hauptgericht hat sie sich für Penne
mit selbstgemachtem Pesto entschieden, als Vorspeise für einen Thunfischsalat und als Nachtisch für ihre Spezialität: selbstgemachtes
Kokoseis.
Lea trägt ein einfaches schwarzes Kleid, das ihr gut steht und das doch
nicht zu aufreizend wirkt.
Gabe und Ava spielen im Wohnzimmer, und während sie alles für die Pasta
bereitstellt – der Pesto steht schon fertig zubereitet daneben –, überkommt sie
eine alles durchdringende Melancholie.
Eine Stunde zuvor hat sie ihre E-Mails gecheckt. Eine davon war von Durano.
»Bin eingeladen, meine letzte Veröffentlichung in Harvard
zu präsentieren. Bin auf dem Rückweg noch kurz in New York. Würde dich gern treffen. Lunch?«
Sie hatte den Computer ausgeschaltet und weiter den Pesto vorbereitet,
bis die Melancholie sie überkam, so wie bei anderen Gelegenheiten Übelkeit sich
meldet.
»Bin um sieben zu Hause«, hatte ihr Mann per SMS mitgeteilt.
Sie hatte zurückgeschrieben: »Der Ökonom und seine Frau kommen um halb
sieben.«
In der Küche hatte sie nach ihren Kindern gehorcht und kurz wieder ihrem
alten Tagtraum nachgehangen, dass sie mit ihnen in den Park ginge, um Schwäne zu
füttern, sie [365] langsam in den Teich liefen, bis sie gänzlich verschwunden wären,
und sie, Lea, dann mit dem Buggy und der Tüte altem Brot nach Hause zurückginge,
um an ihrem Buch weiterzuarbeiten, bis ihr Mann nach Hause käme und fragte: »Wo
sind eigentlich die Kinder?«, und sie dann von ihrem Buch aufblicken und sagen würde:
»Ach, sind sie denn nicht hier?«
Sie nimmt ihr Handy von der Anrichte, um nachzusehen, ob Roland schon
geantwortet hat, doch keine Meldung auf dem Display.
Viermal hat sie mittlerweile mit ihm geschlafen. Inzwischen ist er dabei
etwas entspannter, manchmal nimmt er eine Haarsträhne von ihr und lässt sie durch
seine Finger gleiten. Das ist Zuneigung – seine Art, Zuneigung zu zeigen. Doch bei
ihrem letzten Lunch hat sie gefragt: »Was magst du eigentlich lieber, mit mir reden
oder mit mir ins Bett gehen?«
Denn sie war sich nicht mehr so sicher, hatte irgendwie das Gefühl, dass
er Gespräche über Völkermord der physischen Intimität vorzog.
»Beides«, hatte er geantwortet. »Beides gleich
gern.«
Danach hatte sie ihn in seine Anderthalbzimmerwohnung an der Upper West
Side begleitet, und er hatte mit ihr auf dem Fußboden Sex machen wollen.
»Warum auf dem Fußboden?«, hatte sie gefragt.
»Das ist Leidenschaft«, hatte er erwidert.
Als habe er etwas gutzumachen.
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Das ist keine Leidenschaft. Das gibt eine Lungenentzündung, das spür ich jetzt schon.
Der Boden ist eiskalt. Außerdem krieg ich davon Rückenschmerzen.«
[366] Und sie hatten sich auf sein Bett gelegt.
Jetzt geht sie ins Wohnzimmer. Ihre Kinder spielen mit Bauklötzen.
»Wisst ihr, wer gleich kommt?«, fragt sie, ein Schälchen Oliven in der
Hand. » Ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge aus Europa, aus der Stadt Amsterdam.
Gabe, weißt du, wo Amsterdam liegt?«
Ihr Sohn schaut sie mit großen Augen und halboffenem
Mund an.
2
In seinem Apartment an der Upper West Side steht Roland vor
dem Spiegel und überlegt, ob er zu diesem Anlass ein Jackett anziehen soll.
Seine Exfrau sitzt auf dem Bett, noch in der Jacke. Zusammen mit seinem
Sohn ist sie für ein paar Tage in einem nahe gelegenen Hotel mit Aussicht auf den
Central Park abgestiegen.
»Findest du es nicht nervig, nach all den Jahren immer noch in einer
möblierten Anderthalbzimmerwohnung zu wohnen?«, fragt Sylvie.
Er schüttelt den Kopf. »Ich bin Wissenschaftler.
Meine Forschung ist meine Wohnung. – Soll ich heute Abend ein Jackett anziehen?«
»Wenn du es besser findest.
Du kennst die Leute.«
Er probiert ein Jackett an und stellt sich damit vor den [367] Spiegel.
»Ihr Mann ist Bezirksbürgermeister, da weiß er förmliche Kleidung wahrscheinlich
zu schätzen.«
Schon vor ihrer Abreise nach New York hatte Roland seiner Ex von dem
Essen bei Lea erzählt und sie gefragt, ob sie eventuell bereit wäre, ihn zu begleiten,
alles in völlig harmlosem Ton. Er hatte sich nicht
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