Mit Haut und Haaren
»Wenn der Bengel noch einmal
einen Fuß bei mir über die Schwelle setzt, bring ich ihn um.«
Nicht sehr nett vielleicht, aber die Worte waren nun einmal in ihr so
emporgesprudelt, und wenn Worte in ihr emporsprudeln, dann müssen sie auch hinaus.
Oder dürfen alte Leute gar nichts mehr sagen?
Über vierhundert Euro hat es gekostet, das Sofa zu reparieren.
Doch auch ihre Schwiegertochter nimmt nicht ab.
»Schlecht«, murmelt sie, »ganz schlecht.«
Sie zieht ihren Wintermantel an, den sie im Jahr 1972 gekauft hat. Er ist reichlich verschlissen, tut aber noch seinen
Dienst. Ein neuer Mantel wäre Verschwendung – oder kann [374] man Wintermäntel ins
Paradies mitnehmen? Geld ausgeben darf man nur im äußersten Notfall.
Oben im Badezimmer hört sie es immer noch tropfen.
Es hat geregnet, auf der Straße liegen Blätter. Sie will nicht ausrutschen,
das fehlte ihr gerade noch. Sie nimmt ihren Stock.
Langsam geht sie zu den Nachbarn und klingelt. Die werden schon wissen,
wo man um diese Uhrzeit einen vertrauenswürdigen Klempner herkriegt.
Die Nachbarn machen nicht auf. Sie schaut auf die Uhr. Viertel vor zwölf.
Ob sie schon schlafen?
Sie verfolgt die Gewohnheiten der Nachbarn genau. Meist gehen die Lichter
erst um halb eins aus.
Sie klingelt noch einmal, und als auch das ohne Erfolg bleibt, beginnt
sie, leise, aber hartnäckig mit dem Stock an die Tür zu pochen.
4
Im Boulevard Motor Inn zerrt Jason sicherheitshalber den nackten
Boten ins Bad. Dort ist alles gefliest, und von Fliesen
lassen Flecken sich leicht wieder abwaschen. Von Lust übermannt, zieht er ihn an
den Haaren, die relativ lang sind. Nicht, um ihm weh zu tun, sondern, weil er außer
sich ist, nicht mehr er selbst, kein Bürgermeister, kein Ehemann, kein Familienmensch,
nur noch der Mann, der einen anderen zähmen muss, denn wahre Schönheit muss gezähmt [375] werden, und er hat Schönheit an einem unvermuteten Ort gefunden.
Im Bad muss sich der Bote am Waschbecken festhalten, während Jason ihm
den Rücken mit Küssen bedeckt.
Ein Liebhaber ist er, zärtlich und grausam zugleich, wie jeder wahre
Liebhaber.
Jason ist ebenfalls nackt. Auch ein Bad ist nicht das Ideale, lieber
wäre ihm ein Bett, doch man darf die Realität nicht verkennen. Ein Mensch kann noch
so sehr von Lust übermannt sein, Flecken auf Teppich und Laken bleiben Flecken,
da gibt es nichts dran zu deuteln.
Jason nimmt ein Fläschchen Bodylotion vom Waschbecken und spritzt es
in den Anus des Boten. Er weiß nicht, ob jemand die Creme hat stehen lassen oder
ob es zum Service des Hauses gehört – was eher unwahrscheinlich ist. Doch ihn beherrscht
vor allem der Gedanke: Je mehr Bodylotion er hineinspritzt, desto weniger Scheiße
kommt nachher heraus.
Als er das Fläschchen leer gedrückt hat, kehrt die Zärtlichkeit wieder.
Jason küsst und liebkost den Boten, als würde nach ihm kein anderer mehr kommen,
als habe er all die Jahre seine Liebkosungen für diesen Paketboten aufgespart.
»Herr im Himmel«, flüstert Jason. »Was bin
ich ohne dich? Ein Niemand. Ein Nichts. Ein gottverlassener Mensch. Aber ich werde
dir etwas schenken. Es ist fast so weit. Bald habt ihr, du und deine Familie, eure
Green Card. Das Verfahren läuft schon. Es kann nichts
mehr schiefgehen, mein Lieber.«
Unterstützt von der Bodylotion, bahnt er sich mit den [376] Fingern einen
Weg nach innen. Erst einer, dann zwei, schließlich drei, zu guter Letzt dann sein
Glied.
Der Kopf des Boten hängt über dem Waschbecken.
Während Jason tief in ihm ist und eigentlich ganz von der heiligen Handlung
in Anspruch genommen sein müsste, fällt ihm plötzlich etwas Prosaisches ein: Der
Wirtschaftswissenschaftler
und seine Familie kommen zum Essen. Er muss nach Hause, wieder der Familienmensch
werden, der er im tiefsten Inneren geblieben ist. Jason zieht sein Geschlecht aus
dem Anus des Boten, rollt das Kondom herunter, wickelt es sorgfältig in Toilettenpapier,
wirft es weg und fährt mit dem Finger noch mal über den
jetzt geschmeidigen After, an dem noch etwas Bodylotion
klebt. Unwillkürlich steckt er den Finger in den Mund. Selbst die Bodylotion schmeckt
nach dem Boten. Herrlich findet er diesen Geschmack.
Im Zimmer wischt er sich die Hand an seinem Taschentuch ab, das er vorsichtig
aus der Hose auf dem Bett hervorgeholt hat. Dann zieht er sich eilig an und legt
die Krawatte um, ohne in den Spiegel zu schauen.
Im Bad hängt der Bote noch immer über dem Waschbecken.
Der Bürgermeister lehnt
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