Mit Haut und Haaren
am Türpfosten und schneuzt sich die Nase. Und
wieder durchzuckt ihn der Schmerz. Kurz überlegt er, sich dem Jungen zu Füßen zu
werfen, ihn um Verzeihung zu bitten, ihn anzuflehen,
Frau und Kind zu verlassen, und mit ihm ein neues Leben, in Kanada etwa, zu beginnen.
Gehen wir fort, würde er am liebsten sagen, aus dieser eitlen, unvollkommenen und
grausamen Welt.
Doch da sind noch die Kinder.
[377] Gabe und Ava gehen vor.
»Wenn ich jünger wäre«, fragt Jason, »und keinen Bauch hätte, könntest
du mich dann lieben? Enrique?«
5
Violet schaut amüsiert zu, wie Mirjam die steile Treppe zu
ihrem Zimmer hinaufgerannt kommt. Mirjam gibt ihr nur einen flüchtigen Kuss und lässt sich sofort auf das Bett fallen,
ohne auch nur die Jacke auszuziehen.
Eine Dreiviertelstunde zuvor hat sie angerufen. »Darf ich vorbeikommen?«
Trotz der späten Stunde hatte Violet nicht den Mut, nein zu sagen.
»Es ist nicht zu glauben«, sagt Mirjam.
Ihr Haar liegt besser, ist kürzer, nicht so zerzaust. »Warst du beim
Friseur?«, fragt Violet.
»Es ist nicht zu glauben«, wiederholt Mirjam.
Am Nachmittag hat Violet eingekauft. »Magst
du einen Keks?«, fragt sie. »Oder eine Clementine? Ein Bonbon vielleicht?«
»Am Freitagnachmittag kommt er doch immer?«
»Dein Geliebter?«, fragt Violet sicherheitshalber. Sie nimmt sich eine
Clementine.
»Ja, genau. Wie heute Nachmittag auch. Mit einem Stapel Hausarbeiten,
die er noch lesen muss. Nun gut, alles läuft so wie immer.
Er geht mit mir ins Bett, korrigiert ein paar Seiten, während ich neben ihm liege,
und auf einmal sagt [378] er: ›So geht das nicht weiter. Meine Frau ist nicht blind.‹
– Nach all den Jahren, kannst du dir das vorstellen? Also sag ich: ›Was meinst du
– nicht blind? Wieso soll es nicht so weitergehen? Was soll das?‹ – ›Na ja‹, sagt
er, ›bald werde ich Großvater. Da habe ich Verpflichtungen.
Jetzt muss ich zuerst an meine Familie denken, und für dich wird’s auch langsam
Zeit, dass du über eine Familie nachdenkst.‹ Ist das denn zu glauben?«
Die Werbung im Supermarkt hatte versprochen, die Clementinen seien kernlos,
doch der Supermarkt hat gelogen.
»Ich weiß nicht«, sagt Violet. »Ich hab den Mann seit Jahren nicht mehr
gesehen. Er war ein guter Dozent, das weiß ich noch, aber ansonsten kenne ich ihn
nur aus deinen Erzählungen. Ehrlich gesagt, denke ich, er hat was Jüngeres gefunden,
jünger und frischer als du. Mein Gott, Mirjam, wir sind auch nicht mehr die Allerjüngsten.«
Einen Moment lang ist Mirjam still, dann beginnt sie, erbärmlich zu heulen.
Ihr Körper zittert und bebt.
Violet bereut, was sie gerade gesagt hat. Jetzt hat sie Mirjam bestimmt
zwei Stunden am Hals. Wenn Mirjam einmal am Heulen ist, hört sie so schnell nicht
mehr auf.
Violet setzt sich neben sie und legt ihr den Arm um die Schulter.
»Vielleicht täusche ich mich ja. Er bekommt einen Enkel, das verändert
die Leute. Er wird Opa, er will nicht mit dem Kleinen auf dem Schoß dasitzen und
dabei nach einer Frau riechen, die vierzig Jahre jünger ist als er. Wenn es wenigstens
die eigene Frau wäre – aber nein! Das ist doch verständlich?«
[379] »Vierunddreißig Jahre. Keine vierzig. Glaubst du, es liegt an dem
Enkel? Der ist doch noch gar nicht geboren!?«
»Nein«, sagt Violet, »geboren ist er noch nicht, aber für ihn ist er
schon da.«
Kein Wort meint sie ernst von dem, was sie sagt. Sie hofft nur, dass Mirjam nicht bis zwei Uhr am Morgen bei ihr klebenbleibt.
»Und du? Du hattest doch diese komplizierte
Geschichte?«
»Ach«, sagt Violet und nimmt das letzte Stück Clementine, »ich hab Roland
eine SMS geschickt und gefragt, ob er mir das einfach
so durchgehen lässt, was ich ihm antue.«
»Tust du ihm denn was an?«
»Wenn ich ihm nichts damit antue, läuft etwas
falsch. Nach menschlichem Ermessen müsste ich ihm etwas antun. Und ob!«
6
Der Portier des Apartmentgebäudes antwortet: »Ranzenhofer?
Da entlang! Einfach geradeaus, Erdgeschoss!«
Roland merkt, dass auch Sylvie ein bisschen nervös ist. Jonathan ist
unruhig.
Als er klingelt, öffnet zu seiner Überraschung
nicht Lea die Tür, sondern eine dunkelhäutige Dame im weißen Kittel, die versucht,
einen alten zittrigen Mann über die Schwelle zu schieben.
[380] »Ist das hier bei Ranzenhofer?«, fragt Roland noch, da packt der Alte
ihn mit beiden Händen und ruft etwas in einer Sprache,
die Roland nicht versteht.
»Lass den Herrn los«, sagt die dunkelhäutige
Weitere Kostenlose Bücher