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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Slachter schien
keinen Wert darauf zu legen, er wird [473]  eine andere Verwendung dafür finden. »Sollen wir zu Oma gehen?«, fragt er.
    Eine plötzliche Eingebung. Er hat sich ein wenig vor dem Besuch bei seiner
Mutter gefürchtet, vielleicht hilft es, wenn sein Sohn
mitkommt.
    »Da darf ich doch nicht mehr hin?«, fragt Jonathan.
    »Oma war ein bisschen gestresst. Darum durftest
du nicht mehr hin. Sie war müde, aber jetzt geht es ihr besser.«
    Der Junge nimmt das Buch aus der Tüte und schaut es sich an. »Was steht
da?«, fragt er.
    »Wirtschaftliche Ursachen von Diktatur und
Völkermord«, übersetzt Roland.
    »Was ist Völkermord?«
    »Das ist, wenn ganz viele Leute umgebracht werden.«
    »Wie die Fische.«
    »Wie meinst du das?«
    »Mama sagt, die Fische werden auch umgebracht. Vor allem die Thunfische.«
    »Davon weiß ich nichts«, sagt Roland. »Aber
es kann schon sein.«
    Die Frau mit dem Hund steht auf. »Wie Sie mit dem Jungen reden!«, sagt
sie empört.
    Lange und ziemlich theatralisch schüttelt sie den Kopf. Dann verlässt
sie das Restaurant.
    »Was hat die Frau gesagt?«, will Jonathan wissen.
    »Dass du ein wohlerzogener Junge bist.«
    In einer Confiserie kauft Roland die teuersten Pralinen, die vorrätig sind, und nimmt
dann ein Taxi zu seiner Mutter.
    [474]  »Hier«, sagt er zu Jonathan, als sie vor der Tür stehen, »die kannst
du Oma geben.«
    Mevrouw Oberstein öffnet. Sie mustert erst
ihren Sohn, dann ihren Enkel.
    »Ach, ihr seid’s«, sagt sie.
    Roland setzt sich mit Jonathan auf ihr Sofa. Mevrouw Oberstein trägt
eine Hose, die einmal ihm gehört hat, als er fünfzehn oder sechzehn war. Die Hose
ist voller Flicken, denn die Zeit geht erbarmungslos mit Textilien um.
    Sanft schiebt er seinen Sohn in Richtung der
Großmutter.
    »Jetzt kannst du sie ihr geben«, flüstert
Roland.
    »Für dich«, sagt der Junge.
    Mevrouw Oberstein nimmt die Schachtel, öffnet
sie, betrachtet die Pralinen und schüttelt den Kopf. »Davon wird mir speiübel«,
sagt sie. »Das kann ich nicht essen.«
    »Dann nehmen wir sie wieder mit«, erklärt Roland.
    Mit der Pralinenschachtel setzt Jonathan sich neben seinen Vater.
    »Die Himbeeren, die ich für dich gekauft habe,
sind fast alle verschimmelt«, sagt Mevrouw Oberstein.
    Sie geht in die Küche und kommt mit einem Geschirrtuch voller Himbeeren
zurück. Sie breitet das Tuch auf dem Wohnzimmertisch aus und beginnt, die noch nicht
verschimmelten Beeren herauszulesen. Wie es aussieht, sind kaum mehr essbare übrig.
    Roland schaut sich um, er ist lange nicht mehr hier gewesen.
    Immer noch unerbittlich mit dem Aussondern der Himbeeren beschäftigt, steht seine Mutter plötzlich auf und [475]  geht zum Telefon.
»Ich hatte mir was für dich aufgeschrieben«, sagt sie.
    Sie kramt in Papieren und alten Zeitschriften
und kommt mit einem Kassenbon zurück.
    »Hier steht’s«, sagt sie, ohne sich hinzusetzen. »Ein Unmensch, das wollte
ich dir sagen, ein Unmensch bist du. Ich hab es mir aufgeschrieben, damit ich’s
nicht vergesse.«
    Ihr Ton ist unbeteiligt, nicht wütend oder beleidigt, eher wie bei einer
sachlichen Feststellung, etwa: »Hier gibt es Ungeziefer.« Doch dabei schaut sie
ihren Sohn triumphierend an, als hätte sie soeben eine Heldentat vollbracht.
    Doch gleich darauf ändert sich der Gesichtsausdruck wieder. Sie schaut
ihren Sohn voll Mitgefühl an, fast zärtlich, und sagt: »Na ja, du kannst ja auch
nichts dafür. Es gibt noch Schlimmere als dich. Nicht sehr viele, aber es gibt sie.«
    Sie setzt sich wieder, um die guten von den verschimmelten Himbeeren
zu trennen. Nach gut zehn Minuten drückt sie Roland einen Teller mit ungefähr fünfzehn
nicht oder nur ganz wenig verschimmelten Himbeeren in die Hand.
    »Iss«, sagt sie. »In der Küche hab ich noch mehr. Genauso verschimmelt,
aber auch da sind noch ein paar gute drunter.«
    Während Roland die Früchte aufisst, fragt
sie: »Und – bist du jetzt endlich Professor?«
    Roland schüttelt den Kopf.
    »Ich wusste es«, sagt sie, »so eine Blamage! Und ich hab es schon allen
erzählt! Bis es wirklich mal so weit ist, kann ich nicht warten, bis dahin bin ich
tot.«
    Sie wendet sich an ihren Enkel. »Zu Tode schämen muss [476]  ich mich für
deinen Vater. Ich hoffe, du machst es mal besser und
bist vor deinem einundvierzigsten Geburtstag Professor.«
    Als die Himbeeren alle sind, sagt Roland: »Leider müssen wir weiter,
aber wir kommen bald wieder.«
    Er steht auf, sein Sohn fasst seine

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