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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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bitte«, sagt sie.
    In seinem kleinen Zimmer ist außer für Schreibtisch und Bett nicht sehr
viel Platz.
    Er bleibt auf seinem Bürostuhl, sie holt sich eine Sitzgelegenheit aus
dem angrenzenden Zimmer, das wenig mehr ist als ein erweiterter Durchgang zum Bad.
    »Was machen wir heute?«, will sie wissen.
    »Wir gehen was essen. Denke ich.«
    »Und sonst?«
    Er zuckt mit den Schultern. »Ins Kino? Ein Peitschenspielchen vielleicht?
Später am Abend muss ich allerdings noch etwas arbeiten.«
    »Warum musst du immer nur arbeiten? Und warum erzählst du nie was? Warum
bist du so verschlossen?«
    [483]  »Wenn ich was zu erzählen habe, sag ich
es schon.«
    »Aber du bist doch keine Maschine?«
    »Da bin ich mir nicht so sicher.« Er schaut sie an. Sie hat einen gequälten
Gesichtsausdruck. »Der Biologe Richard Dawkins nennt Menschen Überlebensmaschinen.
In meinem jüngsten Artikel zitiere ich ihn. Wirtschaftswissenschaftler sollten auch die Entwicklung in anderen Fachdisziplinen
verfolgen. Und ich fürchte, Dawkins hat recht: Menschen sind in der Tat Überlebensmaschinen
– und, wenn ihr Leben nicht direkt bedroht ist, Maschinen, die versuchen, ihre Lust
zu maximieren. Das Problem dabei ist natürlich, dass Lust ein sehr dehnbarer Begriff ist und manche ihre ganz eigene Vorstellung davon haben.
Vom rein ökonomischen Standpunkt aus macht das jedoch keinen Unterschied.«
    Sie schaut ihm prüfend ins Gesicht.
    »Aber du hast doch Gefühle?«, fragt sie.
    »Natürlich«, antwortet er. »Aber warum sollte ich andere damit belästigen?«
    »Ich bin deine Freundin.«
    »Ich finde, auch meine Freundin sollte nicht
mit flüchtigen Gefühlen belästigt werden.«
    »Du bist genauso verkorkst wie deine Ex. Ihr hättet zusammenbleiben sollen.
Ich versuche, auf sie zuzugehen, aber sie ruft nie an.
Ich gebe mir Mühe, sie als Menschen zu behandeln, aber sie ignoriert mich. Nicht,
dass ich auf ihren Anruf besonderen Wert lege. Überhaupt nicht. Ich brauch ihre
Freundschaft nicht. Aber sie kann doch wenigstens nett
zu mir sein?«
    »Sylvie ist ein Mensch, du brauchst sie nicht
erst so ›zu behandeln‹.«
    [484]  »Schau dir nur meine Zähne an.«
    Sie öffnet den Mund.
    »Die sehen doch gut aus«, meint Roland.
    »Sie sind wieder gelb.«
    »Dann lässt du sie dir eben noch einmal bleichen. Es geht hier doch nicht
um deine Zähne. Ich hab wichtigere Dinge zu tun.«
    »Um meine Zähne geht es mir auch nicht. Aber ich hab das Gefühl, dass
sie überall ist, wo wir auch sind, immer taucht sie irgendwo auf. Diese komische
Bude, wo du unbedingt einziehen musstest, hast du doch auch über sie gefunden. Verstehst
du mich jetzt?«
    »Ehrlich gesagt, nein. Wenn du nicht willst, dass Sylvie dich anruft, und sie ruft nicht an – wo ist
dann das Problem? Sie soll dich nicht anrufen – sie ruft dich
nicht an! Dann ist doch alles paletti?«
    Violet nimmt ihre Tasche und holt Meneer Bär und die anderen Tiere heraus.
    »Ich dachte«, sagt sie, »vielleicht sollten wir uns jeder ein Tier aussuchen,
und das spricht dann für uns, vielleicht verstehen wir uns dann besser. Direkt miteinander
zu reden, kriegen wir ja nicht hin – das merkst du doch auch? Vielleicht können
wir es über einen Umweg versuchen.«
    Sie stellt die Tiere nebeneinander aufs Bett. Er sieht ein Eichhörnchen,
ein kleines Schwein, eine Ente, Meneer Bär, noch einen Bären und ein Schaf. Violets
Augen werden feucht.
    »Wenn ich Meneer Bär bin«, sagt sie, »wer
willst dann du sein?«
    Er betrachtet die Tiere. Am liebsten würde er sagen: [485]  »Liebling, ich
bin Wirtschaftswissenschaftler,
kein Tier, kein Ding zum Knuddeln – Wissenschaftler.«
Doch er sieht ihre feuchten Augen, er kann nicht zurück. Das ist seine Aufgabe in
den nächsten Minuten, vielleicht gar in den kommenden Stunden: ein Tier sein.
    »Dann bin ich das Schwein«, antwortet er.
    »Du musst es dir nehmen.«
    Er nimmt das Plüschtier. Es ist klein, passt mit Leichtigkeit in seine
Hand.
    »Ich bin Meneer Bär«, sagt sie. Sie setzt Meneer Bär auf ihren Schoß.
    Roland hofft nur, dass seine Zimmerwirtin
dieses Gespräch nicht hört. »Hallo, Schweinchen«, sagt Violet. »Wie geht’s? Wo kommst
du her?«
    »Es geht, Meneer Bär«, antwortet Roland. »Ich komme von nirgends. Sie
haben mich unter einem Haufen Steine gefunden. Ich bin das Schwein ohne Vergangenheit.«
    Er legt das Tier auf den Schreibtisch.
    »Ich kann das nicht«, sagt er. »Ich bin Wissenschaftler, ein erwachsener Mann. Kein Schwein.

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