Mit Haut und Haaren
dir auch einen kleinen Radiator hineinstellen.«
Freundlich fand Oberstein das, fast mütterlich.
Antoinette verfügt nicht nur über einen Obstgarten in Frankreich, sondern
auch über eine kulturelle Stiftung in den Niederlanden.
Sie behauptet, jeden zu kennen, der im künstlerischen Leben der Hauptstadt Rang
und Namen hat, und auch sonst in der Kulturszene von Amsterdam und Umgebung kräftig mitzumischen. Kaum wohnte Roland zwei Tage bei ihr, hatte
sie ihn schon zum Essen eingeladen.
Im oberen Stockwerk hat er ein eigenes Zimmer mit Bad, aber sie teilen
die Küche.
Beim Essen erzählte sie von ihrer Stiftung,
wobei sie ihm selbstgemachte Lasagne servierte. »Lammlasagne«, erklärte sie mit
bedeutungsvollem Unterton, als würde Roland keine andere als Lasagne vom Lamm essen.
[467] Während sie das Gericht in vier gleiche Portionen teilte, sagte sie:
»Wir organisieren auch wissenschaftliche Symposien, vielleicht
kannst du ja mal was dazu beitragen, wenn es sich ergibt. Und wir vergeben Preise,
jedenfalls richten wir die Preisverleihung aus. Literaturpreise, zum Beispiel den
Vroom-&-Dreesmann-Literaturpreis für den besten Roman des Jahres. Liest du gern?«
»Ich lese viel, aber so gut wie gar keine Belletristik«, erwiderte Roland.
»Ich versuche, vor allem in meinem Fachgebiet auf dem Laufenden zu bleiben.«
»Und das ist?«, fragte Antoinette, während sie Roland seine Portion Lasagne
auftat.
Roland meinte, ihr das schon beim ersten Gespräch erzählt zu haben, doch
er erklärte es ihr auch gern noch ein zweites Mal.
»Die Geschichte der Spekulationsblasen. Und Völkermord, aber das nur
am Rande«, antwortete er.
»Faszinierend«, hatte Antoinette erwidert. »Ganz faszinierend.« Dabei
sah sie ihn an, als meine sie es ernst.
Vom Bahnhof aus geht er gemächlich zu seinem neuen Zuhause an der
Gracht, doch auf einmal fällt ihm ein, dass es fast schon drei Uhr ist und er keine
Zeit mehr hat, noch in seiner Bleibe vorbeizugehen. Auch wenn es nur eine vorübergehende
Unterkunft ist – er nennt diesen Ort »seine Bleibe«.
Ein bisschen nervös eilt er zur Schule seines Sohns. Ihm geht auf, dass
er noch nie dort gewesen ist. Immerhin hat er Fotos der Schule gesehen, auch von
Jonathans Klassenkameraden.
[468] Vor dem Gebäude warten die Mütter und Väter, hier und da ein Jugendlicher,
der die Kinder abholt. Sie unterhalten sich, scheinen einander fast alle zu kennen.
In geziemendem Abstand stellt er sich dazu.
Als die Schultür sich öffnet, strömen die
Väter und Mütter hinein. Roland lässt allen den Vortritt. Als er endlich auch hineingehen
will, wird er von einer herausstürmenden Gruppe Kinder fast umgerannt.
In der Schule bemerkt er sofort den Geruch. Nicht nur nach Schweiß, auch
nach Toiletten, die lange nicht saubergemacht worden sind. Vage erinnert er sich
an die Beschreibung seiner Ex für den Weg zu Jonathans Klasse: Er müsse eine Treppe
hinauf, doch in welches Stockwerk und worauf er dann achten soll, weiß er nicht
mehr.
Er geht in den ersten Stock. Er muss sich gut festhalten, denn immer
wieder stoßen Kinder in vollem Lauf mit ihm zusammen. Im ersten Stock ist der Geruch
nach dreckigen Toiletten noch schlimmer.
Vor einer der Klassen bleibt er stehen. Er schaut sich um, ob er Jonathan
sieht.
Überall Kinder. Sie springen, schreien und rennen. Weit und breit keine
Lehrkraft, die er nach Jonathan fragen könnte.
Ein Junge mit halblangem blondem Haar hängt sich an Rolands Hosenbein
und brüllt: »Du stinkst aus dem Arsch!«
Roland ignoriert ihn. Er ist sich nicht sicher, ob der Ausruf wirklich
ihm gilt, doch selbst wenn, ist ignorieren das Beste. Noch ein paarmal ruft der Junge: »Du stinkst aus dem Arsch«, und zieht an Rolands
Hosenbein.
[469] Roland lässt sich nichts anmerken und sucht die Garderobenleiste ab,
wo die Jacken der Kinder hängen.
Ein anderer Junge zerrt an der Tüte mit Rolands Buch. »Wer bist du?«,
fragt er mit quengelnder Stimme. »Zu welchem Kind gehörst du?«
»Aufhören!«, hört Roland da eine Mutter rufen. »Hör auf mit dem Spruch.
Das ist nicht mehr lustig.« Der Junge mit dem halblangen Haar hängt noch immer an
Rolands Bein und wiederholt ziemlich fanatisch seine Meinung zu Rolands Hintern.
Die Hölle, denkt Roland. Vielleicht nicht gerade der innerste Kreis,
aber weit davon entfernt sind wir nicht. Er reißt sich los, was ziemlich anstrengend
wird, die Kleinen verfügen über ungeahnte Kräfte.
Im zweiten Stock ist es etwas ruhiger. Doch
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