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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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von Jonathan noch immer keine
Spur.
    »Wen suchst du?«, fragt eine Mutter in grellfarbener Regenjacke.
    Du? Du? »Kennen wir uns?«, würde Roland am liebsten fragen, doch er antwortet:
»Jonathan, Jonathan Oberstein. Meinen Sohn.«
    »Und wie heißt die Lehrerin oder der Lehrer?«
    »Seine Lehrerin heißt …« Roland stockt, zermartert sich das Hirn. Sylvie
hat ihm den Namen genannt, doch er fällt ihm nicht ein. »Lehrerin, glaube ich«,
sagt er leise.
    Die Frau schaut ihn an wie einen arglistigen Päderasten, der in die Schule
eingedrungen ist und nur eins will: so viele Kinder entführen wie möglich.
    Er dreht sich um und geht unverrichteter Dinge wieder nach unten, als
plötzlich sein Handy klingelt. Eine SMS von [470]  Sylvie.
»Vergiss bitte nicht, Jonathans Jacke und Tasche mitzunehmen«, schreibt sie. »Wenn
du nicht dran denkst, vergisst er’s. Frag ihn auch, ob man sie auf Läuse untersucht
hat, sonst mach ich das heut Abend.«
    Am liebsten würde er zurücksimsen: »Ich kann Jonathan nicht finden. Wo hat er sich versteckt? Und warum riecht es hier
überall nach Scheiße? Wir sind doch nicht im KZ . Sie
können die Latrinen doch putzen!« Aber er will Sylvie nicht unnötig beunruhigen.
    Auf dem Schulhof findet er Jonathan. Er spielt
Fußball. Roland hebt seinen Sohn hoch und gibt ihm drei Küsse.
    »Du kannst mich wieder runterlassen«, sagt der Kleine.
    Er zeigt auf eine junge Frau Anfang zwanzig.
    »Das ist meine Lehrerin«, sagt er.
    Schweigend schüttelt die Frau Jonathans Vater die Hand.
    Oberstein würde gern etwas sagen, zum Beispiel: »Ich bin der Vater des
Jungen, schön, Sie endlich mal kennenzulernen.« Doch nichts an der Haltung der Lehrerin
lässt erkennen, dass sie an näherem Kontakt interessiert ist, darum belässt er es
bei einem schweigenden Händedruck.
    »Wir dürfen deine Jacke und deine Tasche nicht vergessen«, sagt Roland.
»Wo sind die?«
    »Weißt du das nicht?«, fragt Jonathan.
    Roland schüttelt den Kopf. Er schaut die Lehrerin an. Sie hat etwas Nuttiges,
findet er. Doch ihm ist klar, dass er diesen Gedanken
seinem Sohn besser nicht anvertraut.
    »Gib mir lieber die Hand«, sagt Jonathan. »Du kennst dich hier nicht
so aus, was?«
    »Nein«, sagt Roland. »Ich kenne mich hier
nicht aus.«
    [471]  4
    Während sie auf dem Teppich ihre Fitnessübungen machte – jeden
Nachmittag fährt sie auf dem Boden im Wohnzimmer in der Luft
Fahrrad, um ein wenig in Form zu bleiben –, ist Mevrouw Oberstein eingeschlafen.
    Sie rappelt sich hoch und schaut auf die Uhr. Fast halb vier. Gleich
kommt ihre Lieblingssoap im Fernsehen, obwohl die auch nicht mehr ist, was sie mal
war.
    Langsam geht sie zum Telefon. Sie wählt Rolands Nummer, doch wieder einmal
bekommt sie nur seine Mobilbox.
    »Hier spricht deine Mutter«, sagt sie. »Seit drei Tagen bist du jetzt
im Land und hast es immer noch nicht für nötig befunden, dich bei mir blicken zu
lassen. Ich hab Himbeeren für dich gekauft, die sind
mittlerweile verschimmelt. Deine alte Mutter ist dir offenbar
piepegal. Am liebsten wäre dir, ich wär tot. Na, viel fehlt nicht. Übrigens warst
du als Kind schon genauso ein Unmensch.«
    Sie legt auf, nimmt einen roten Stift und
schreibt in zittriger Handschrift auf die Rückseite eines
Kassenbons das Wort »Unmensch«.
    Dann tippelt sie langsam zum Fernseher.
    [472]  5
    Im »Café-Restaurant 1ste Klas« am Hauptbahnhof hat Roland Jonathan
einen Apfelsaft bestellt und für sich selbst einen Espresso.
    Neben ihnen sitzt eine Dame mit Hund. Schon ein paarmal ist der Hund
zu Rolands Ärger an ihm hochgesprungen, doch er wagt sich nicht zu beschweren. Obwohl
er in Amsterdam aufgewachsen ist und jahrelang hier gewohnt hat, fühlt er sich als
ein Fremder.
    »Jonathan«, sagt Roland, »ich soll dich von Mama fragen, ob sie dich
in der Schule auf Läuse untersucht haben.«
    Jonathan macht mit dem Strohhalm Blasen in den Apfelsaft.
    »Was sind Läuse, Papa?«
    »Läuse sind kleine Dinger auf deinem Kopf«, antwortet Roland.
    Jonathan nickt. »Ach ja«, meint er, »die Lehrerin sagt, ich hätte da
lauter kleine Tierchen, aber ich soll mir keine Sorgen machen, die Tierchen sind
lieb.«
    Roland merkt, dass die Hundebesitzerin mithört.
    »Gut«, sagt er so leise wie möglich, »dann werden wir was dagegen unternehmen.«
    »Hast du auch kleine Tierchen auf dem Kopf, Papa?«, will sein Sohn wissen.
Seine helle Stimme dringt durch das ganze Café.
    Roland legt die Plastiktüte mit seinem Buch auf den Tisch.

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