Mit Haut und Haaren
dann eine Weile auf dem Gang
kampiert. Scheint ein unangenehmer Typ gewesen zu sein. Schwierig im Umgang. Selbstgefällig.«
»Ich kenne die Geschichte«, sagt Oberstein.
»Der Dozent war ich.«
Er meint, den Kollegen erröten zu sehen, doch er ist sich nicht sicher.
»Na ja, wie auch immer«, fährt Slachter unerschütterlich fort, »bei uns
kommt so was nicht vor. Hier gehen wir freundlich miteinander um. So eine Missgunst
unter Kollegen wie in Rotterdam kennen wir hier nicht.«
»Gegenseitige Bewunderung ist an der Universität selten zu finden«, erklärt Oberstein trocken, »aber ich habe nicht vor,
den Kollegen Schwierigkeiten zu machen. Von mir habt ihr keine Probleme zu erwarten.
Ich erledige meine Arbeit, und fertig.«
»Selbstverständlich«, antwortet Slachter. Er scheint immer noch etwas
verwirrt wegen seines Fauxpas. »Na ja, wie auch immer, weil du jetzt nur vorübergehend
hier bist – obwohl du uns nächstes Jahr natürlich wieder für ein Semester verstärken
sollst, wenn alles normal läuft –, hat dich die Fachgruppenleitung
bei mir einquartiert. Ich hoffe, das macht dir nichts
aus. Ich werd dir den Schlüssel geben. Das Büro von Ilse Vermaes wäre natürlich
auch frei gewesen, aber das haben sie wem anders gegeben. Lange Geschichte. Ich
will dich nicht damit langweilen. Raumnot, du kennst das.«
[464] Slachter überreicht ihm den Schlüssel.
»Das hier ist dein Stundenplan. Morgen früh um elf Uhr geht’s los. Gleich
eine große Gruppe. Einführung in die Grundbegriffe der
Ökonomie. Die einfachsten Grundlagen. Mehr Ehrgeiz darfst du nicht haben. Es sind
Jurastudenten. Ihre mathematischen Kenntnisse sind minimal. Schlepp sie irgendwie
durch. Die Hälfte bekommt keinen Schein – die Hälfte muss durchfallen –, aber wir
sollten doch ein bisschen kulant bleiben, nicht wahr? Soll ich mit dir noch eine
kleine Führung durchs Institut machen?«
»Nein danke«, sagt Roland, »das ergibt sich
schon alles von selbst.«
»Hast du noch Fragen?«
Oberstein wirft einen
Blick in die Runde. »Nein, keine Fragen.«
Er steht auf und schüttelt Kollege Slachter so herzlich wie möglich die
Hand.
Die Economic Origins nimmt er wieder mit nach
Amsterdam.
2
Sie lunchen in der Nähe der Schule, in einem italienischen
Bistro auf dem Haarlemmer Dijk, wo Jonathan meist ein Panino mit Thunfischsalat isst und ein großes Glas kalten Kakao trinkt.
»Das Lädchen«, nennt Jonathan das Bistro immer. [465] »Mama«, sagt er oft, »gehen wir wieder ins Lädchen, du weißt schon?«
»Nachher kommt Papa dich abholen«, erinnert Sylvie ihn. »Nicht vergessen.«
Statt erfreut schaut Jonathan verdutzt drein.
»Aber kennt die Lehrerin Papa denn?«, fragt er.
Sylvie isst ein Emmentaler-Ciabatta.
»Natürlich«, antwortet sie. »Sonst sagst du’s ihr. Das ist mein Papa,
sagst du dann. Versprochen?«
Jonathan schaut in sein halbvolles Glas. Ihr Ex ist für ein paar Monate
in die Niederlande gekommen, doch die Verzweiflung, die sich in bleierner Müdigkeit
äußert, hat Sylvie noch immer im Griff.
»Komm«, sagt sie. »Ich bring dich in die
Schule zurück.«
Sie schaut auf die Uhr. Sie muss zu Meneer van Neste. Er hat angerufen
und sie schüchtern, fast stotternd gefragt, ob sie die Ärmel eines Oberhemds umnähen
könne.
3
Die Universität von Leiden zahlt Oberstein ein minimales Gehalt,
und wenn die George Mason auch bereit war, ihn für ein Semester ziehen zu lassen,
so sind seine Bezüge so lange doch gleich null. Rolands Unterkunft wurde damit zum Problem. Zu Violet auf ihr Zimmer zu ziehen
schien ihm keine gute Idee. Ein Bad mit drei anderen teilen – dann noch lieber unter
einer Brücke schlafen! Nette möblierte [466] Apartments im Amsterdamer Zentrum waren
für ihn nicht zu bezahlen, und in Leiden zu wohnen war auch keine Lösung, es ging
ja darum, seinem Sohn näher zu sein. Dazu war er hier.
Bei einer von Sylvies Patientinnen – eine Dame mit Wohnsitz im Zentrum,
an einer der Grachten – hat Roland zuletzt zu einem unschlagbaren Preis eine Unterkunft gefunden. Die Dame heißt Antoinette, ist um die fünfzig,
äußerst gepflegt und außerdem hilfsbereit. Zu jeder Zahnkontrolle
bringt sie Sylvie selbstgemachte Birnenmarmelade mit, offenbar
aus eigenem Garten – nebst Haus in Frankreich. Sie sei
eine sehr nette Frau, erklärte Sylvie, und die Marmelade auch ziemlich lecker.
Gleich bei der ersten Begegnung hatte Antoinette Roland vorgeschlagen:
»Wenn’s dir im Bad kalt ist, kann ich
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