Mit Haut und Haaren
dem
Standpunkt, dass Dein Pferd kein Grund zum Versäumen meiner Vorlesung ist. Solltest
Du das Pferd wichtiger finden als Deine Lehrveranstaltungen,
rate ich Dir, das Studium zu wechseln. Vielleicht kannst Du woanders Tiermedizin
studieren, das würde es Dir zweifellos ermöglichen, mehr Zeit mit Deinem Pferd zu
verbringen, ohne Dein Fach zu vernachlässigen. Ich bin nicht verpflichtet, Dir auf Deine beleidigende E-Mail zu antworten, aber
es erschien mir korrekter, das trotzdem zu tun. Mit freundlichen Grüßen, RO .«
Er steht auf. Wahnsinn ist wie ein Virus.
Roland geht zum Kaffeeautomaten. Während er
auf seinen Espresso wartet, ruft Lea an.
»Störe ich?«, fragt sie.
»Nein.«
»Ich habe den Flug gebucht. Ich komme mit meinen [493] Kindern und meinem
Großvater. Meiner Mutter erzähle ich es erst, wenn alles vorbei ist, sonst wird
nie was draus. Hast du endlich mit deinem Hausarzt gesprochen?«
»Hör mal, Lea«, sagt Roland, während er seinen Espresso aus dem Automaten
nimmt, »ich weiß, dass du mich für einen Euthanasiespezialisten hältst, und mir
ist auch klar, dass es nicht deine Schuld ist, dass sie in den USA an der Idee eines rachsüchtigen Gottes festhalten, der
es nicht leiden kann, wenn Leute ihm ins Handwerk pfuschen, aber ich hab auch noch
andere Dinge zu tun, als deinen Großvater um die Ecke zu bringen. Es ist nicht meine
Schuld, dass die Nazis ihn nicht totgekriegt haben. – Es kommt alles in Ordnung,
dein Großvater wird sanft entschlafen. Tut mir leid,
dass ich gerade so grob war, ich will nur damit sagen, dass dein Großvater momentan
nicht meine größte Sorge ist. Ich muss mich hier mit inkompetenten Kollegen herumschlagen,
mit einer Bürokratie, gegen die der Kommunismus ein Wunder an Klarheit und Effizienz war, und mit Studenten, die ihre Pferde wichtiger
finden als ihre Vorlesungen. Verstehst du, warum ich
mit den Nerven runter bin?«
»Was?«, fragt Lea.
»Pferde, Lea, Pferde!«
»Ich habe von meinem Großvater gesprochen. Ich finde
es nicht nett, wie du über ihn redest.«
»Lea, ich kann nichts dafür, dass ich nicht auf die Ermordung von Großvätern
spezialisiert bin. Es ist bei mir angekommen, dass du ihn ins Jenseits befördern
willst, und du wirst gute Gründe dafür haben, ja mehr noch: Ich werde dir sogar
dabei helfen. Du hast mein Wort: Innerhalb von [494] zwei Monaten nach seiner Ankunft hier ist dein Großvater hops. Ich bin zwei Monate nach meiner Ankunft fast tot, da muss
das bei deinem Großvater doch irgendwie auch gehen. Hab ein bisschen Vertrauen zu
mir. Lass dem Todesengel etwas Zeit.«
In seinem Büro wirft er den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb. Es tut ihm leid, dass er sich
so hat gehenlassen.
»Roland«, sagt Kollege Slachter, der immer noch mit der Zeitschrift über Steuerrecht dasitzt, »du darfst das mit der Wissensvermittlung
nicht so persönlich nehmen.«
»Ich habe immer gedacht«, antwortet Oberstein, »es gebe einen Unterschied
zwischen Wissensvermittlung an einer Universität und einem Kurs Sackhüpfen für Fortgeschrittene,
aber ich merke, zumindest was die Uni Leiden betrifft,
dass dieser Gedanke naiv war. Von jetzt an werde ich das hier offenbar gewünschte Niveau eines Kurses für Sackhüpfen nicht
mehr überschreiten.«
10
In seinem Sportstudio hat Jason Ranzenhofer einen Personal
Trainer engagiert, um etwas gegen seinen Bauch zu tun. Der Trainer kennt kein Erbarmen.
Auch behandelt der Bürgermeister seine Haare (oder was davon übrig ist)
noch immer mit Rogaine, wenn auch mit dürftigem Ergebnis.
Seine Kontakte haben dafür gesorgt, dass die Green Card [495] für seinen
Liebsten in Ordnung geht, doch das hat er ihm noch nicht verraten. Er befürchtet,
Enrique könnte ihm davonlaufen, dass sie ihre verzweifelte und doch so erregende
Anrufung Gottes dann nicht mehr würden zusammen vollziehen können.
Er kann sich ein Leben ohne Enrique nicht mehr vorstellen. Manchmal bringt
der Gedanke an seinen Geliebten ihn nachts um den Schlaf. Er träumt von Enrique,
doch es sind Alpträume.
Weil seine Besuche im Boulevard Motor Inn ihm zu umständlich wurden –
immer wieder nach Queens, wie oft stand er dabei im Stau
– und weil er seine aufrichtigen Gefühle für den Boten nicht in einem Stundenhotel
ausleben wollte, hat er eine Etage in einem alten Lagerhaus unter der Manhattan
Bridge gemietet, einem angesagten Viertel von Brooklyn. Dort können sie ihn eventuell
als Bürgermeister erkennen, doch das ist ihm egal. Ohne
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