Mit Haut und Haaren
Ruchlosigkeit ist wahres
Leben unmöglich. Wenn die U-Bahn vorbeifährt, ist es, als rattere sie mitten durchs
Zimmer, doch auch das stört Jason nicht. Endlich beginnt er zu leben.
Er träumt immer wieder dasselbe: Der Junge erklärt ihm, dass er nach
Guatemala zurückgehe, Jason sagt, er wolle mitkommen, doch Enrique erwidert, das
sei nicht möglich, in Guatemala sei es für ihn viel zu heiß. Jason bleibt allein
auf dem Flughafen zurück.
Jetzt trainiert er seine Bauchmuskeln im Studio, nicht weit von seiner
Wohnung.
»Nicht aufgeben, Jason«, sagt der Personal Trainer, ein einziges Muskelpaket.
Und Jason macht weiter. Er kann nicht mehr, am liebsten würde er sich auf den Boden [496] fallen lassen, doch er hält durch. Wenn Ranzenhofer keinen Bauch mehr hat und
wieder mehr Haare, vielleicht wird Enrique ihn dann endlich erkennen. Vielleicht
dann verstehen, dass Gewalt die Grundlage aller Gerechtigkeit ist und dass hinter
dieser Gerechtigkeit Zärtlichkeit winkt. Die Zärtlichkeit des Jason Ranzenhofer.
11
»Ich hab dir eine Flasche Whisky mitgebracht«, sagt der Geigenlehrer
in Sylvies Wohnzimmer und holt die Flasche zusammen mit einer Baumwollhose aus seiner
Tasche.
»Vielleicht könntest du dir die Hose auch mal kurz vornehmen?«, fragt
er. »Wenn’s nicht zu viel Mühe macht?«
»Ich muss gleich in die Praxis, Meneer van Neste«, sagt Sylvie. »Es warten
Patienten auf mich.«
Sie nimmt Hose und Flasche entgegen und legt sie auf den Esstisch, neben
einen Stapel Hörbücher von Jonathan.
Sylvie erwartet, dass der Geigenlehrer nun geht. Er ist unangemeldet
gekommen, sie hat ihm erklärt, dass sie in die Praxis muss, er sollte das verstehen.
Doch er macht keinerlei Anstalten zu gehen.
Er trägt eine Hose, die sie umgenäht hat, auch den Bund hat sie enger
gemacht. Er ist doch ein ganz neuer Mensch, jetzt, wo ihm die Hosen nicht mehr um
die Beine schlackern wie Fähnchen im Wind.
»Ich muss jetzt wirklich zu meinen Patienten, aber heute [497] Abend schau
ich mir Ihre Hose an. Oder wenn ich mit Jonathan nächstes Mal zu Ihnen komme, dann
können Sie sie gleich anziehen, und ich stecke sie ab.«
Sie ist erstaunt über die Unmengen von Hosen und Hemden, die der Geigenlehrer
in den vergangenen Monaten angeschleppt hat. Sie ist keine Schneiderin, aber sie
tut es gern. Außerdem verlangt er kein Geld mehr für seine Stunden, eigentlich ist
es also kein schlechtes Geschäft.
Doch immer noch rührt er sich nicht.
»Ich kann Sie kurz in den Arm nehmen«, sagt sie. »Aber dann muss ich
wirklich zu meinen Patienten.«
Warum sagt sie das nur? Sie bereut es sofort, doch ein Wort ist ein Wort.
Jetzt kann sie nicht mehr zurück.
»Gern«, antwortet er. »Wenn’s nicht zu viel
Mühe macht.«
Sie nimmt den Geigenlehrer in die Arme, spürt sein erigiertes Glied an
ihrer Hüfte.
Doch auch seinen großen, warmen Körper spürt sie, einen Körper, der in
ihren Armen zittert. Die Wärme rührt sie, die Hingabe, mit der er sich ihr in die
Arme wirft.
»So«, sagt sie, »jetzt geh ich mal bohren.«
Sie lässt ihn vorsichtig los.
»Magst du eigentlich Whisky?«, fragt er, während sie ohne Not sein Oberhemd
glattstreicht.
»Um ehrlich zu sein, nein.«
»Dann kannst du den Whisky auch zum Flambieren nehmen, für Pfannkuchen
zum Beispiel.«
Der Geigenlehrer scheint seinen Mund auf ihren pressen zu wollen, doch
im letzten Moment wechselt er die Richtung und küsst Sylvie auf die Stirn.
[498] 12
In zwanzig Minuten fängt seine Vorlesung an, doch Oberstein
arbeitet noch an einem Vortrag. Wenn er einmal richtig in Fahrt ist, hält er es für Verschwendung, sich zu früh aus der Konzentration
herausreißen zu lassen. Anders als seine anderthalb Zimmer in Amsterdam kann er
das Büro hier in Leiden kaum als seines bezeichnen. Es ist ein Gefühl, als sei er
hier nur zu Gast, der ungeliebte Kollege, den Slachter nie haben wollte.
Ihm gegenüber sitzt eine Studentin, die mit der Frage hereinkam: »Darf
ich kurz stören?«
Der Vortrag, an dem er arbeitet, ist für eine Konferenz in Lyon zum Thema:
»Vichy et l’économie politique«. Ein kleines, aber hochkarätiges Symposion solle
es werden, hat man ihm schriftlich versichert.
»Ich habe eigentlich keine Zeit«, hat er der Studentin erwidert.
Als er nach fünf Minuten aufblickt, sitzt die Studentin immer noch da.
Es ist offenbar dringend. Doch was die Studenten in Leiden
als dringend bezeichnen, stimmt oft nicht mit seiner
Auffassung von Dringlichkeit
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