Mit Haut und Haaren
Ende des Semesters Wiederholungsprüfungen,
dann kannst du was daran ändern.«
Der Junge verschränkt die Arme und sieht ihn herausfordernd an.
Es ist sein zweiter Monat in den Niederlanden, noch ein paar Wochen,
dann darf er wieder zurück an die George Mason. Manchmal hat er das Gefühl, dass
er seine Vaterpflichten am Telefon besser erfüllt. Seine
Anwesenheit hier hat bisher wenig gebracht. Wenn er mit Jonathan spielt, ist er
mit den Gedanken nicht bei der Sache. Immer wieder holt er ihn zu sich nach Hause
und setzt ihn dann bei Antoinette vor den Fernseher, während er selbst arbeitet.
Verbringt er Zeit mit ihm, fühlt er sich schuldig, weil er [490] seine Studie über
die Spekulationsblase vernachlässigt. Arbeitet er an seiner Studie, hat er das Gefühl,
ein Versager zu sein, weil er sich nicht um seinen Sohn kümmert. Er hat versucht,
Jonathan den Grundgedanken seines Buchs zu erklären: dass die Menschen nichts lieber
wollen, als betrogen zu werden, dass der Wille zum Leben im Grunde nichts anderes
ist als Sehnsucht nach Täuschung und dass er darüber ein Grundlagenwerk schreibt,
aus wirtschaftswissenschaftlicher
Sicht, doch sein Sohn wollte ihm nicht zuhören. Wenn sein Vater von der Spekulationsblase
anfängt, hält Jonathan sich die Ohren zu.
Er hält Samuels Blick stand. Ein Student, einer von vielen.
Kollege Slachter kommt herein, begrüßt Oberstein mit einem Nicken und
setzt sich an seinen Schreibtisch am Fenster.
Obersteins Schreibtisch steht an der Tür.
»Mein Vater tut viel für die Universität«, sagt Samuel.
»Das ist schon möglich«, antwortet Oberstein, »aber dein Vater interessiert
mich nicht. Wenn du deine vier Punkte anfechten willst, kannst du einen Zweitkorrektor
beantragen, dafür gibt es ein Verfahren, das dir zweifelsohne bekannt ist. Ich rate
dir zur Wiederholungsklausur, aber wenn dir das nicht genügt, kannst du andere Wege
beschreiten. Mit allen damit verbundenen Risiken.«
Der Student will noch etwas sagen, doch Oberstein streckt ihm die Hand
entgegen. »Ich glaube, wir haben alles besprochen«, sagt er.
Ohne Rolands Hand zu schütteln, verlässt der Student das Büro.
[491] Oberstein sieht, wie Slachter ihn anschaut; nach einer Weile sagt
der Kollege: »Ich will mich nicht einmischen, aber dieser herablassende Ton, das
geht wirklich nicht mehr. Wir demütigen unsere Studenten nicht, das sind Methoden
von gestern. Studenten sind Kunden, wir müssen sie ein bisschen zuvorkommend behandeln,
sonst studieren sie woanders.«
»Tut mir leid, Erik«, sagt Oberstein, »aber ich werde dafür bezahlt,
Wissen zu vermitteln. Findet die Wissensvermittlung nicht statt, gehe ich angesichts
meiner Erfahrung als Dozent davon aus, dass das an den betreffenden Studenten liegt. Ich werde nicht dafür bezahlt, ungenügende
Leistungen irgendwie schönzureden oder gar zu verfälschen. Und Studenten sind Studenten,
keine Kunden. Ich habe keine Kunden, ich bin keine Prostituierte.«
Kollege Slachter schaut ihn verblüfft, vielleicht
sogar etwas pikiert an. Er zuckt mit den Schultern.
Roland schaltet seinen Computer ein.
Eine Studentin hat ihm eine E-Mail geschickt.
»Lieber Meneer Oberstein, leider muss ich Ihrer Vorlesung am kommenden
Donnerstag fernbleiben. Mein Pferd muss nämlich zum Tierarzt. Ich bin nicht verpflichtet, mich abzumelden, aber es erschien mir korrekter,
das trotzdem zu tun. Mit freundlichen Grüßen, Gwendolyne, Matrikelnummer 0812453.«
Oberstein starrt ein paar Sekunden unverwandt auf seinen Bildschirm,
dann betrachtet er Slachter, der eine Zeitschrift für
Steuerrecht liest.
Langsam, aber sicher wird er an dieser Uni verrückt. Wie ein sich hinziehender
Krankenhausaufenthalt zu [492] Hospitalismus führt, so stecken ihn der Mangel an Ehrgeiz
und die Beschränktheit an diesem Hort akademischer Bildung, personifiziert in Kollege Slachter, allmählich an. Nicht nur Slachter,
die ganze Universität ist lähmend. Heute Morgen erst hat er sich von einem Techniker
am Kopierer eine Standpauke anhören müssen, weil er sein Kopierlimit überschritten
hatte. Widerrede war zwecklos, der Mann hatte immer nur wiederholt: »Vorschriften sind Vorschriften, und die
gelten für alle.«
Angesichts dieses Technikers, des Kollegen Slachter und der kleinlichen
Angst seiner anderen Kollegen, nur ja nicht irgendwo anzuecken, überkommt ihn Sehnsucht
nach der George Mason und den kurzen Hosen von Bergstrom.
Oberstein beantwortet die Mail: »Liebe Gwendolyne, ich stehe auf
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