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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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vor sich hin.
    Noch keine zwei Minuten sind sie aus dem Haus, als Rolands Handy klingelt.
Es ist seine Mutter. Er bekommt keine Chance, auch nur »Hallo« zu sagen. »Seit du [556]  geboren bist«, ruft sie, »machst du mir das Leben
zur Hölle. Und jetzt halst du mir auch noch einen dementen Juden auf, den du umbringen
willst, du Nazidoktor. Ich kann es nicht fassen, dass ich einen Nazidoktor zur Welt
gebracht habe, aber damit muss ich wohl leben. Und dass du dich weigerst, Professor
zu werden, das ist der letzte Nagel zu meinem Sarg!«
    Mit diesen Worten legt sie auf.
    »Wer war das?«, fragt Lea.
    »Meine Mutter«, sagt Roland.
    »Und?«
    »Mach dir keine Sorgen. Dein Großvater ist gut untergebracht. Wenn er
meine Mutter überlebt, war er noch nicht reif zum Sterben.«
    Er nimmt Leas Tochter bei der Hand. Langsam gehen sie zur Straßenbahnhaltestelle.
    39
    »Neunzehn Jahre und vier Monate?«, fragt Sylvie.
    Sie sitzt mit ihrem Sohn und Roland in der Pizzeria Capri in der Nähe
des Noordermarkts, wo sie oft mit Jonathan isst.
    Sylvie kann kaum glauben, was ihr Ex ihr gerade erzählt hat. Es steht
ihm natürlich frei, Kontakte zu knüpfen, mit wem immer er will. Wenn er das Leben
eines Wüstlings führen will – bitte! In gewissem Sinne hat sie dem ja sogar [557]  Vorschub
geleistet, sie hat ihn zu dem Essen bei Lea begleitet. Eine verheiratete Frau hat
vielleicht auch ihre Nachteile, aber immer noch besser als so eine Violet. Die soll
erst mal ihre eigenen Probleme lösen. Aber neunzehn Jahre und vier Monate! Was soll
Jonathan denken?
    »Weißt du, wie alt dein Sohn ist?«, fragt Sylvie, während sie wutentbrannt
ihren Mozzarella schneidet. »Fünf Jahre und acht Monate! Als du deinen Abschluss
gemacht hast, kam sie in den Kindergarten, als du als Dozent angefangen hast, saß
sie auf dem Dreirad.«
    »Ich weiß nicht, ob sie ein Dreirad gehabt hat, darüber haben wir nicht
gesprochen.«
    Roland rührt in seiner Hühnersuppe.
    »Wer hatte ein Dreirad?«
    »Niemand, Jonathan. Iss deinen Schinken.«
    »Ich dachte, dir kann ich’s erzählen. Es ist ein Fling. Wie sagt man das auf Niederländisch, ein Fling?«
    »Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht. Herrgott noch mal, Roland,
sie könnte deine Tochter sein. Du bist wegen deinem Sohn hergekommen.«
    »Nur rein technisch betrachtet.«
    »Was? Nur rein technisch betrachtet?«
    »Nur rein technisch betrachtet könnte sie meine Tochter sein.«
    Eine Kellnerin schenkt Wein nach.
    »Wer ist deine Tochter, Papa?«, fragt Jonathan.
    »Halt den Mund!«, faucht Sylvie. »Iss deinen Schinken! Du wolltest Melone
mit Schinken. Jetzt iss es auch auf!«
    Sie nimmt ein großes Stück Mozzarella. Als sie das hinuntergeschluckt
hat, sagt sie: »Du hast Violet, du hast Lea, [558]  dann gibt es noch mich, und jetzt
dieses Mädchen von neunzehn Jahren und vier Monaten. Willst du einen Harem aufmachen?
Ich hab dich immer für einen intelligenten und auf deine Art gefühlvollen Mann gehalten,
aber jetzt frag ich mich doch: Bist du noch normal? Ist das das Ergebnis von all
deinen Forschungen? All deinen Spekulationsblasen? Ein Harem? Dann ohne mich. Ich
finde das Leben auch so schon schwierig genug, auch ohne
Harem.«
    »Was ist ein Harem, Papa?«
    »Siehst du, was du dem Kind antust? – Iss auch die Melone, Jonathan.
Sonst gehen wir nach Hause. Wenn du anfängst, mit dem Essen zu spielen, gehen wir
nach Hause.«
    »Gar nichts tu ich ihm an! Du hast von dem Harem angefangen. Ich bin
offen zu dir über mein Leben. Weil du die Mutter meines
Kinds bist, meine Ex, und was bekomme ich zum Dank dafür? Eine Moralpredigt. Du
hättest Pfarrerin werden sollen. Und wenn du’s unbedingt wissen willst: Gegen einen
Harem hätte ich nichts einzuwenden, rein gar nichts. Was ist so falsch an einem
Harem? Wenn Leute sich auf freiwilliger Basis zu einem Harem zusammentun und das
Mann-Frau-Verhältnis dort auf dem Prinzip der Gleichheit beruht, sehe ich nicht
ein, was man gegen einen Harem vorbringen könnte. Außerdem ist es eine mehr pädagogische
Angelegenheit. Ich hab Gwendolyne eine SMS geschrieben
mit dem Vorschlag, eine Arbeitsgruppe über die Wirtschaftspolitik
von Vichy zu gründen. Bei den alten Griechen wurde Wissensvermittlung auch mit körperlicher
Liebe belohnt. Denkst du, die alten Griechen waren plemplem? Hältst du dich wirklich
für schlauer als all die alten Griechen zusammen?«
    [559]  Sylvie lässt den Kopf sinken. »Jetzt bin ich sicher«, sagt sie nach
einer kurzen Pause.

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