Mit Haut und Haaren
»Du bist nicht normal.«
Er streut etwas Cayennepfeffer über seine
Suppe.
»Sag so was nicht in Jonathans Anwesenheit«, flüstert
er. »Sonst denkt er noch, sein Vater sei wirklich meschugge.«
»Aber das stimmt doch!«, ruft Sylvie. »Und
er soll es lieber jetzt erfahren als später, wenn er erwachsen ist. So kann er sich
schon mal an den Gedanken gewöhnen.«
»Jonathan«, sagt Roland gemessen. »Dein Vater ist Ökonom. Und Wissenschaftler. Er hat Marx auf Deutsch gelesen. Er ist einer der vierzig
bedeutendsten Smith-Experten der Welt. Er ist viel mehr als einfach ›normal‹. Und
jetzt leg dein Nintendo weg. Und iss deinen Schinken!«
Von Mutlosigkeit übermannt, betrachtet Sylvie ihren Ex. Roland steht
auf und drückt Jonathan an sich. »Hör auf!«, ruft der
Junge. »Kannst du nicht sehen? Ich habe zu tun!«
Langsam setzt Roland sich wieder. In die Rechte nimmt er seinen Löffel. Mit dem linken Ellbogen stützt er sich auf den Tisch.
»Ich bin Wissenschaftler«, sagt er. » Das bin ich: ein ziemlich bedeutender Wissenschaftler.«
Sie versucht, sich an den Roland von früher zu erinnern. »Nein«, sagt
sie, »ein Dilettant bist du.«
Er isst ein paar Löffel Suppe.
»Sie liest Bücher, die nichts für sie sind«, sagt er entschieden, »aber
sonst ist sie sehr lieb. Sie hat ein Pferd. Ein nettes Pferd. Beschränkt, aber schön.
Das Pferd. Sagt sie. Ich kenne mich da nicht so aus. Und wenn du nicht so darauf
bestanden hättest, dass ich in die Niederlande zurückkomme, wär das gar nicht passiert.«
[560] »Ein Pferd«, murmelt Sylvie. »Eine Pferdetussi. Auch das noch. Uns
bleibt auch nichts erspart!«
40
Gwenny sitzt auf der beheizten Terrasse von ›Annie’s Verjaardag‹,
einem Lokal im Zentrum von Leiden. Zusammen mit Lieke trinkt sie Rosé. Ihr Handy
liegt auf dem Tisch, neben einer Schale mit japanischen Knabbersachen.
»Sollen wir Oberstein noch eine SMS schicken?«,
fragt Gwenny.
»Du nimmst die Wette ganz schön ernst«, antwortet Lieke. Sie hält sich
an Gwennys Arm fest wie im Kino, wenn ihr der Film zu spannend wird.
Als sie noch in die Schule gingen, waren Gwenny und sie oft zusammen im Kino, um Horrorfilme
zu sehen, und bei jeder grusligen Stelle klammerte sie sich an Gwennys Arm.
»Ja, ziemlich ernst«, erwidert Gwenny.
»Und worum haben wir gleich wieder gewettet?«
»Um eine Nacht in einem Hotel, in Amsterdam.«
»Wenn ich verliere, muss ich echt sparen«, meint Lieke.
»Dann würd ich jetzt schon mal damit anfangen«, antwortet Gwenny.
Es kommt ihr vor, als sei das Leben eine einzige Wette. Eine beruhigende
Vorstellung. Das Einzige, was man zu tun braucht, ist die Wette gewinnen.
[561] Immer noch umklammert Lieke Gwennys Arm; plötzlich kneift Gwenny zurück.
»Nicht so fest!«, ruft
Lieke. »Warum machst du das?«
41
Im Beatrixpark, nicht weit von Mevrouw Obersteins Haus, haben
Lea und Roland sich auf eine Bank an einem Teich gesetzt. In dem Teich schwimmen
Enten. Leas Kinder spielen im Gras.
Während des Gesprächs hält Lea ihre Jacke mit einer Hand zu. Ein paar
Hundebesitzer streifen durch den Park. Sie sind die Einzigen, die auf einer Bank
sitzen.
»Ich habe einen Pakistaner kennengelernt«, sagt Lea.
Roland starrt auf seine Schuhe. »Wie hast du ihn kennengelernt?«, fragt
er.
»Über Craigslist. Zuerst war es was rein Sexuelles. Du weißt, dass ich
Sex brauche. Aber ich glaube, jetzt liebt er mich auch. Ich meine, nicht nur den
Sex.«
Der Teich und die Wiese sind durch einen kleinen Holzzaun getrennt, anders
als im Brooklyner Park. Der Zaun hat schon bessere Zeiten gesehen.
»Ich habe eine Studentin kennengelernt«, erwidert Roland.
»Sag bloß.«
Lea ist kalt. Es ist eine feuchte, durchdringende Kälte, aber sie will
nicht aufstehen.
[562] »Ich habe das Buch gelesen, das du mir empfohlen hast, von dem Mann,
den Primo Levi in seinem KZ -Bericht Henri nennt«,
sagt er.
»Steinberg.«
»Paul Steinberg, genau. Interessanter Text, eine Stelle ist eine direkte
Replik an Levi. Steinberg spricht sich nicht völlig frei. Aber ich glaube, er plädiert
auf mildernde Umstände.«
Sie müsste darauf eingehen, etwas dazu sagen, aber sie hat keine Lust.
»Ist es das, was du mir erzählen wolltest?«, fragt Roland. »Das mit dem
Pakistaner?«
»Vielleicht ist es überflüssig, das noch mal
zu sagen«, meint sie, »aber: Trotz allem liebe ich dich …«
Sie schaut ihn an, doch er schaut nicht zurück, er starrt auf die Enten
oder aufs Wasser.
»Es ist
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