Mit Haut und Haaren
Oberstein, als sie endlich die
Tür einen Spaltbreit öffnet. Dreimal hat Roland geklingelt
und auch noch ans Fenster geklopft.
»Das sind Lea, ihre Kinder und ihr Großvater«, sagt er. »Dürfen wir reinkommen?«
[553] »Wenn’s unbedingt sein muss«, sagt seine Mutter. »Als hätt ich nichts
Besseres zu tun.«
Umständlich hilft Roland Leas Großvater ins
Haus. An Leas Hand gehen ihre zwei Kinder.
Als sie im Wohnzimmer sitzen und ihren Tee bekommen haben sowie Kekse,
an denen man sich die Zähne ausbeißen kann (»Sie sind alt, aber sie schmecken noch
sehr gut«, hat seine Mutter gemeint), erklärt Roland, warum sie gekommen sind.
Mevrouw Oberstein steht auf, geht zu Leas Großvater und schreit ihm ins
Ohr: »Hast du gehört? Sie wollen dich aus dem Weg räumen!«
Dann setzt sie sich wieder.
Zum Glück reagiert Leas Großvater nicht auf ihre laute Stimme. Ein vernünftiger Mann.
Obwohl sie sich wieder gesetzt hat, spürt Roland, dass seine Mutter sich
mit dem bevorstehenden Ende von Leas Großvater noch immer nicht abfinden kann.
»Was sagt deine Mutter?«, fragt Lea.
»Sie sagt, dass sie einen Arzt an der Hand hat, der sich mit Euthanasie
auskennt«, antwortet Roland. Dann wendet er sich auf Niederländisch wieder an seine
Mutter.
Leas Kinder sitzen brav neben ihr auf dem Sofa. Sie machen einen etwas
verängstigten Eindruck. Beide halten noch immer ihren Keks in der Hand; ihn hinunterzubekommen,
haben sie aufgegeben.
»Mama«, sagt er, »ich hab Lea versprochen, ihr zu helfen. Sie ist eine
gute Freundin von mir. Ihr Großvater ist ein Überlebender, jetzt ist er dement.
Sie glaubt, dass er leidet, und möchte ihn davon erlösen. Dein Hausarzt ist [554] doch
progressiv auf dem Gebiet von … na ja, von so was halt.«
Mevrouw Oberstein steht auf. »Eine Freundin oder deine Freundin?«, will
sie wissen. Sie nimmt ihre Brille von der Kommode, setzt sie auf und betrachtet
Lea mit forschendem Blick. Nach einigen Sekunden sagt sie: »Eine hässlicher als
die andere. Wie machst du das nur? Noch nie hast du eine schöne, gesunde Freundin
nach Hause gebracht. Die Frau, mit der du verheiratet warst, sah aus wie ein Hund.
Ich weiß immer noch nicht, was für einer. Erst dachte ich an einen Boxer, inzwischen
tippe ich doch mehr auf einen Bastard. Und alle potthässlich. Wo kriegst du die
bloß immer her?«
Mevrouw Oberstein nimmt ihre Brille wieder ab und setzt sich.
»Was hat deine Mutter gesagt?«, fragt Lea.
»Sie sagt, du sollst dir keine Sorgen machen. Bald ist dein Großvater
erlöst«, antwortet Roland. »Ihr Hausarzt ist einer, der nicht lange fackelt.«
»Oh«, sagt Lea, »ich dachte, ich hätte was ganz anderes verstanden.«
Doch Roland erwidert: »Wer ein bisschen Deutsch spricht, versteht darum
noch lange kein Niederländisch.«
Mevrouw Oberstein steht wieder auf und nimmt ihre Brille. Jetzt mustert
sie aufmerksam den alten Mann. Speichel tropft aus seinem
Mund. »Ein Überlebender, sagst du. In welchen Lagern ist er gewesen?«
Oberstein nennt ein paar Namen.
»Ein Witz!«, ruft Mevrouw Oberstein triumphierend.
»Nichts im Vergleich zu dem, wo ich war, aber das ist noch [555] lange kein Grund,
ihn aus dem Weg zu räumen. Schaut ihn euch an, wie er dasitzt, völlig verwahrlost.
Ich werd ihm ein paar Karotten auspressen.«
Sie nimmt ihre Brille wieder ab und geht in die Küche.
»Was hat deine Mutter gesagt?«, fragt Lea.
»Dass dein Großvater tatsächlich nicht mehr zu retten ist. Aber dass
sie jetzt erst mal Karottensaft für ihn macht. Sie glaubt,
er hat Durst.«
Nach fünf Minuten kommt Mutter Oberstein mit einem Glas Saft und einem Strohhalm zurück. Sie bleibt so lange neben dem
alten Mann stehen, bis er den Saft ausgeschlürft hat.
Zu Roland sagt sie: »Das geht über meine Kräfte.
In meinem Alter lässt du mich noch Karotten auspressen! Was tust du deiner alten
Mutter nur an! Denkst du, ich bin noch so rüstig wie früher?«
Nach einer Stunde verabschieden sich Lea, die Kinder und Roland. Leas
Großvater bleibt bei Mevrouw Oberstein. Sie weigert sich, den alten Mann gehen zu
lassen.
Zu Lea hat Roland gesagt: »Meine Mutter meint, sie werde gut auf ihn
achtgeben. Bei ihr sei er sicher.«
Lea zögert einen Moment, dann flüstert sie
ihm ins Ohr: »Na ja, wo ich ihn doch zum Sterben hierhergebracht habe, kann ich
ihn genauso gut bei deiner Mutter lassen.«
Roland küsst Mevrouw Oberstein auf die Wange. »Pass gut auf dich auf«,
sagt er.
»Strafe Gottes«, murmelt sie
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