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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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»Vielleicht solltest du jetzt langsam
Roland zu mir sagen?«
    Sie schüttelt sachte den Kopf.
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber bei ›Meneer Oberstein‹
bleiben.«
    [593]  10
    Violet erwacht aus einem Traum, ohne sich an Details zu erinnern.
Zusammen mit Meneer Bär liegt sie im Bett. Sie greift zu
ihrem Handy, das unter das Kissen gerutscht ist.
    Es dauert ein Weilchen, bis Roland das Gespräch annimmt.
    »Violet?«, fragt er.
    »Ja«, antwortet sie.
    »Was gibt’s? Es ist mitten in der Nacht.«
    »Ich hab schlecht geträumt. Bist du noch in Lyon?«
    »Ja, bin ich. Nicht schlecht träumen. Schlaf wieder ein. Wir telefonieren
morgen.«
    Sie legt auf.
    Wenn sie nicht einschlafen kann, versucht sie, an eine bestimmte Tasche
zu denken, ihren bisher besten Entwurf, eine Tasche mit luxuriösem Federbesatz,
in die fast nichts hineinpasst. Sie nennt diese Tasche: »Ironie«.
    11
    Die Vorträge am ersten Morgen der Tagung beschließt Roland
zu schwänzen. Ursprünglich wollte er in ein Museum gehen, doch stattdessen macht
er mit Gwendolyne einen Spaziergang. Dort, wo sich am Rande der Altstadt ein steiler
Hügel erhebt, gehen sie in ein Bistro.
    [594]  Er bestellt einen Kaffee und ein Glas Wasser,
sie einen Tee.
    »Ich hab dir auch was mitgebracht«, sagt er. Aus seiner Tasche holt er
ein Exemplar der Economic Origins of Dictatorship and Genocide.
    »Drei der neun Beiträge stammen von mir. Vielleicht interessiert es dich.«
    Dankend nimmt sie das Buch mit beiden Händen entgegen.
    Vor ihr steht Pfefferminztee aus frischen
Blättern.
    »Ich weiß eigentlich wenig von Ihnen«, sagt Gwendolyne nach einigem Schweigen.
    Er schaut aus dem Fenster.
    »Was möchtest du wissen? Ich bin Ökonom. Aber das weißt du ja schon.
Ansonsten glaube ich, dass es nichts bringt, sich als Mensch erklären zu wollen,
indem man in der Vergangenheit wühlt. Wenn ich Leute ›meine Herkunft‹ oder ›mein Volk‹ sagen höre, wird mir schlecht. Alles Varianten
ein und desselben Syndroms: Chauvinismus, humanistisch verbrämt. Den Begriff ›meine Familie‹ mag ich auch nicht besonders. Ich verfechte
einen radikalen Individualismus. Was möchtest du noch wissen?«
    Vielleicht klingen seine Worte gefühllos. Das möchte er nicht, aber wie
sollte er es sonst ausdrücken?
    Sie antwortet nicht.
    »Wenn du dieses Buch hier gelesen hast«, sagt er und legt seine Hand
auf die Economic Origins, »hast du etwas gelernt. Bestimmten
Ergebnissen und Interpretationen magst du widersprechen, falls dein Wissen groß
genug ist, meinen Argumenten etwas entgegenzusetzen, aber das sagt noch [595]  nichts
gegen das Buch. Wenn du deine Schmonzette von Zweig fertig hast, was hat die dir
gebracht? Du hast Zeit investiert, und was kriegst du dafür?«
    Sie schaut erst auf ihren Tee, dann zu ihm.
    »Schönheit«, sagt sie.
    »Ach«, ruft Oberstein: »Buch durchgelesen
– Schönheit bekommen? Meiner Meinung nach ist das ein Paralogismus, oder wie nennt
man so was? Unbeweisbar auf jeden Fall. ›Schönheit‹ ist hier doch ein anderes Wort
für Betrug! Möglicherweise willst du damit zeigen, dass du zu einem Zirkel von Eingeweihten
gehörst, aber dazu brauchst du das Buch nicht zu lesen, dazu brauchst du es nur
gut sichtbar in den Bücherschrank zu stellen und kannst dir das ganze Theater ersparen.«
    »Man lernt etwas über die Liebe«, sagt sie.
    Oberstein schüttelt den Kopf.
    »In diesem Buch«, er legt seine Hand wieder auf die Economic Origins, »zitiere ich in einer Fußnote aus dem unterschätzten
Werk des Holocaust-Überlebenden M. S. Arnoni, Mutters Beerdigung
fand ohne sie statt. Ich zitiere aus dem Kapitel ›Hütet euch vor der Liebe‹,
darin steht alles, was man zu dem Thema wissen muss.«
    Er blättert in seiner Schrift. »Ich werd es
dir vorlesen«, sagt er, »warte, gleich hab ich’s.«
    Oberstein nimmt einen Schluck Wasser und blättert weiter.
    Endlich hat er die Stelle gefunden. Er nimmt eine Vorlesehaltung ein.
    »Komm, junger Liebender«, liest er, »lass uns ein paar Dinge klarstellen,
bloß um zu wissen, woran wir sind. Du [596]  hast sie also gefunden, die für dich Begehrenswerteste?
Herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg! Du willst dich nicht nur auf dein Glück
verlassen? Sicher sein, dass du den Nektar bis zum letzten Tropfen genießt? Der
Zustrom der Freuden nimmer versiegt? Willst, dass er verschwenderisch strömt, ohne
dass du ertrinkst? Und – Selbstaufopferung, Güte und Altruismus einmal beiseite
– dass die

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