Mit Haut und Haaren
Ernte nur dir allein bleibt? Mit niemandem teilen? Nicht einmal, wenn
das für die Angebetete angenehm wäre? Dann erst recht nicht? Sieh mich an, junger
Mann. Denk an das Beispiel vom erfahrenen Gärtner mit seinem Baum: Du musst das
Beste geben, um das Beste zu ernten. Keine bessere Investition, keine höhere Rendite
ist möglich. Was meinst du, du brauchst meine Ratschläge nicht? Du wusstest das
alles schon längst? Intuitiv? Instinktiv? Und hast genau getan, was ich gesagt habe?
Bravo, dann bist du der geborene Liebhaber. Schlau und berechnend.«
Er schlägt das Buch zu und bestellt noch einen Kaffee.
»Die Leute können sich nicht einmal selbst akzeptieren, geschweige denn
die andern, und trotzdem führen sie das Wort Liebe im Mund«, sagt er, während er
ein Tütchen Zucker aufreißt. »Oder sie kommen dir mit ›Einfühlungsvermögen‹, das
sei von Biologen erwiesen. Als würde ich das leugnen! Empathie ist ein Mittel, die
Überlebensmaschine Mensch zu optimieren. – Dasselbe gilt für die Lustmaximierungsmaschine,
die der Mensch außerdem ist, und auch dabei hilft Empathie.
Es gibt Menschen, die Sinn suchen oder Bedeutung oder was weiß ich nicht alles,
und dann sieht es einen Moment lang so aus, als sei die Maximierung der Lust nicht
ihr oberstes Ziel. Aber was sie damit zum [597] Ausdruck bringen, ist höchstens, dass
die üblichen Formen der Lust ihnen nicht mehr genügen. Einfühlung ist ein Mittel
zum Zweck. Daran können wir nichts ändern. Das sind unsere Werkseinstellungen. Und
versteh mich richtig, ich behaupte nicht, die Maschine Mensch maximierte ihre Lust
ohne Rücksicht auf Moral oder praktische Umstände. Die reale Wirkung der Moral leugne
ich nicht.«
»Sie wissen viel«, sagt Gwendolyne mit spöttischem Lächeln.
»Ich habe einen Vorsprung von gut zwanzig Jahren«, antwortet er.
Oberstein schaut auf die Uhr. »Fast Mittag. Noch etwas früh, aber wollen
wir einen Wein trinken, oder einen Pernod?«
Sie trinken erst einen Pernod und dann Wein. Sie küssen sich.
Es wird 13.30 Uhr.
»So langsam muss ich zur Tagung«, sagt Oberstein.
Sie bestellen eine Karaffe Rotwein. Roland
küsst sie. Er denkt an Durano. Der Gedanke, ihn gleich wiederzusehen, ist ihm eine
Qual.
»Es gibt gewisse Kollegen«, sagt er, »die meine Wissenschaft in Verruf bringen.«
Dann küsst er sie wieder.
Er sieht Professor Skiba vor sich, hört ihn »armes Engelchen« sagen.
Auch Professor Skiba hofft er nie mehr zu sehen.
Er bestellt noch eine Karaffe – und etwas
Käse, um keinen Schwips zu kriegen.
Es wird 14.30 Uhr.
[598] »In einer guten Stunde beginnt mein Vortrag«, sagt Oberstein. »Jetzt
müssen wir wirklich los. Ich jedenfalls, du kannst ja bleiben. Ich weiß, die Wirtschaftspolitik von Vichy lässt dich ziemlich kalt, aber irgendwann
hoffe ich dich doch noch für mein Fach begeistern zu
können.«
Der Käse ist noch nicht alle, aber der Wein, darum bestellt er noch eine
Karaffe.
Sie küssen sich.
»Normalerweise bin ich nicht so kitschig«, meint Gwendolyne.
»Wir sind degoutant«, sagt Oberstein. »Wenn Leute wissen wollen, was
degoutant ist, brauchen sie nur uns anzusehen.«
Es wird 15.15 Uhr.
»In einer halben Stunde beginnt mein Vortrag«, sagt er. »Aber ich krieg
keinen zusammenhängenden Satz mehr heraus. Schau mich an, Gwendolyne. Was siehst
du?«
Sie antwortet nicht.
Er steht auf, geht zur Herrentoilette, kühlt sich den Kopf, schaltet
sein Handy aus und setzt sich wieder zu ihr an den Tisch.
Eine halbe Karaffe Wein ist noch da. Er schenkt
ihr und sich nach.
»Das ist mir noch nie passiert«, sagt er. »Ich habe immer geliefert.
Du weißt, nur Arbeit macht frei, hierfür werde ich schrecklich bestraft werden. Wir müssen sofort fliehen.
Die Strafe wird fürchterlich sein.«
Er drückt Gwendolyne an sich. Jetzt ist Roland sich sicher: Professor
Skiba und Sven Durano sind Feinde der Menschlichkeit.
[599] 12
Auf dem Weg vom Bistro zum Hotel verlaufen sie sich. Gwendolyne
wird in ihrem Kleid langsam kalt. Hätte sie nur eine Strumpfhose angezogen! Sie
hatte nicht damit gerechnet, so viel im Freien herumzulaufen, und auch gehofft, in Lyon ginge es schon etwas dem Sommer entgegen.
In der Hand hält sie Obersteins Buch.
Zu Hause über ihrem Bett sind all ihre Bücher auf zwei Regalbrettern
versammelt. Wenn sie wieder zurück ist, wird sie sein Buch dazustellen.
Sie hat viel getrunken, ist aber nicht beschwipst. Betrunken sein mag
sie nicht. Sie kann sich nur an einen einzigen
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