Mit Haut und Haaren
Bescheid.
Aber ich hätte doch gern noch Einzelheiten.«
Die Bluse wirkt vergilbt, aber vielleicht liegt das auch an dem Licht.
Zum ersten Mal hat er das Gefühl, dass er keine Zukunft zu
bedienen braucht, nichts vor ihm liegt, dass er frei ist. Keine George Mason, kein
Institut für Finanz- und Fiskalwissenschaften, keine
Antoinette mehr und auch kein Vroom & Dreesmann-Literaturpreis, keine Studenten,
keine Kollegen. Ihm schießt ein anderes Bild durch den Kopf: Er, hier im Stroh liegend
und nie wieder erwachend. So stellt er sich seinen Tod vor: Gerade war man noch
da, und plötzlich ist man weg. Ohne viele Worte, einfach die Augen zumachen.
»Zum Beispiel hätte ich die SMS , die Sie
ihr geschickt haben, nicht herumgezeigt. Das fand ich so gemein. Echt schäbig.«
Zweimal kurz hintereinander muss Oberstein sauer aufstoßen. Er unterdrückt
den Impuls auszuspucken. Schließlich ist und bleibt er Dozent. Um Haltung zu bewahren,
starrt er auf Liekes Stupsnase.
Er macht einen Schritt auf sie zu. Unter dem Arm trägt er noch immer
sein Buch.
»Erzähl«, sagt er. »Ich verstehe nicht. Welche SMS ?«
Oberstein fährt sich durchs Haar.
[626] »Na ja … Also am Anfang saßen wir in Ihrer Vorlesung, und wir fanden
Sie so anders. So …«
Sie lächelt.
»… so verletzlich.« Ihr Lächeln ist verführerisch. Zwei ihrer Zähne stehen
ein bisschen schief. Seine Exfrau hätte das längst gerichtet.
Verletzlich. Er muss lachen. Sie muss jemand anderen meinen. Verletzlich
ist Slachter. Ein Fiskalist. Ein Mann ohne wissenschaftliche
Ambitionen. Ohne Lebensziel. Er nicht.
Das Gefühl, einer Zukunft entgegenzugehen,
kehrt langsam wieder zurück.
Sie fordert ihn heraus. Die Jugend. Das muss sie, dazu ist es die Jugend.
Aber es wird ihr nicht gelingen.
»Gwenny meinte: Diesen Oberstein krieg ich locker rum, aber ich sagte:
Nee, der interessiert sich gar nicht für Mädchen. Der steht auf Männer. Garantiert
nicht, meinte Gwenny. Da haben wir gewettet, und ich hab verloren. Jetzt muss ich
sparen. Gwenny ist echt leichtfertig in diesen Dingen. Darum wollte meine Mutter
mir den Kontakt mit ihr schon verbieten. Aber das hätte ich auch wieder schade gefunden.«
Er ist nur noch zwei Meter von dem Mädchen entfernt.
»So, hat sie das gesagt?«, fragt er: »›Den Oberstein krieg ich locker
rum‹?«
Er versucht, höhnisch zu klingen, doch er kann nur noch krächzen. Er
starrt auf den Ladyshave.
»Ich finde Ihre Vorlesungen faszinierend.
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon mal gesagt habe, Meneer Oberstein. Sie bringen
uns zum Nachdenken.«
Ihre Stimme wird immer träger.
[627] Bald muss er zum Bahnhof zurück, auf einen Zug warten. Eine grässliche
Vorstellung. Ja mehr noch: Der Gedanke beklemmt ihn.
»Ich selbst finde meine Vorlesungen langweilig.
Ich bin als Vertreter von Mevrouw Vermaes angestellt. Ich muss sie vertreten. Darum.
Kennst du Mevrouw Vermaes?«
Er hat das Gefühl, als sei das tatsächlich der Grund für seine Anwesenheit
an diesem Samstagabend im Frühling 2009, in diesem Pferdestall westlich von Delft. Wenn man die Geschichte von Anfang an erzählen wollte,
müsste man bei Mevrouw Vermaes beginnen, der Frau, die der Meinung war, auf der
Welt gebe es noch nicht genug Kinder.
Lieke hält die Augen auf ihn gerichtet. »Ein bisschen«, antwortet sie.
»Nicht richtig.«
Oberstein räuspert sich. »Die Vorlesungen, die weniger langweilig wären,
darf ich in Leiden nicht halten. Die seien zu kompliziert für euch, heißt es. Weil
Mevrouw Vermaes sich’s einfach macht mit ihrem todlangweiligen Zeug, nicht mehr
als eine Zusammenfassung des Lehrbuchs. Aber lass uns über was Interessantes reden,
über Angebot und Nachfrage. Warum, denkst du, bin ich hergekommen? An diesem Samstagabend?
Im Regen?«
»Ich würde gern noch weiter mit Ihnen reden, Meneer Oberstein, aber ich
muss mich um Herzogin kümmern. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht … Ich hab morgen ein
Turnier.«
Er reibt sich übers Gesicht. Alles an ihm klebt.
»Doch, es macht mir was aus. Ich bin extra hierhergekommen. Erst eine
Stunde mit dem Zug, dann eine halbe Stunde Herumirren mit dem Taxi.« Wieder schmeckt
er [628] den abscheulichen Rioja. Er legt den Kopf in den Nacken in der Hoffnung, dass sein saurer Speichel ihm wieder in die Speiseröhre
zurückläuft. Und plötzlich sieht er ihn erneut: Don Quijote,
diesen Halbstarken. Arrogant, selbstsicher und rotzig.
Sie finden ihn also verletzlich. Die Studenten.
Noch einen Schritt
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